Am Grund des Sees
betrachtete er sich im Spiegel: hohläugig, bärtig, ausgemergelt - ein passender Mörder. Wie der alte Jonas gesagt hatte, spiegelten Tommi und er sich gegenseitig. Deshalb hatte Tommi gemordet, und deshalb war Contini, im Spiegel, der Schuldige.
Zumal neben Desolinas Leiche ein Foto von ihm auf dem Boden gelegen war, wie ein weiterer Spiegel. Und Tommi hatte eigens auf ihn gewartet, bevor er davongefahren war - es war doch Tommi gewesen, der von der Straße her zu ihm heraufgeschaut hatte? Was wollte er? Weshalb wollte er ihn zum Komplizen machen?
Er wandte den Blick ab und prüfte mit der Hand die Wassertemperatur. Kochend heiß. Er ließ es eine Weile kalt nachlaufen und stieg dann mit angehaltenem Atem in die Wanne. Während er eintauchte, hatte er ein Gefühl im Magen, das wie ein Alarmsignal war. Es kam und war augenblicklich wieder verschwunden, gerade lang genug, um sich zur Kenntnis zu bringen.
So verharrte er zwischen kalter Umgebung und heißem Wasser.
Wieder hörte er den alten Jonas: Du musst nachschauen, was drunter ist, unter dem Spiegel - es reicht nicht zu beweisen, dass du nicht der Mörder bist . Es reicht nicht? Nun, es wäre immerhin etwas. Er stellte die Kaffeetasse auf dem Wannenrand ab und ließ sich, dampfumwogt, bis zum Hals ins Wasser gleiten.
Seine Gedanken führten ein Eigenleben. Das heiße Wasser lullte seinen übernächtigten Kopf ein, als wäre er ein kleines Kind.
»Ah, Contini«, murmelte er, »du wirst jetzt gleich irgendeinen Mist reden …«
Irgendetwas entging ihm. Etwas Eigenartiges, das hinter Tommis Worten und hinter De Marchis Fragen stand … aber wieso De Marchi? Eher Malfanti: Auf wen schießt Herr A?
Auf wen schießt Herr A? Und diese Truhe im Keller, diese zwei Fettwachsleichen auf dem Grund des Sees …
Es läutete an der Tür.
Contini schreckte auf. Genau in dem Moment, als der letzte Gedanke sich zu verwehen anschickte, hatte es ihn von der Schwelle des Schlafs zurückgerissen. Die Polizei. Das sind sie, dachte er, jetzt verhaften sie mich.
Und in dem Augenblick war das Alarmsignal wieder da. Es war etwas Unerwartetes, wie eine bekannte Stimme inmitten der Menschenmenge in einer großen Stadt. Aber diesmal war er auf der Hut und ließ sich das Signal nicht entgehen.
»Also ist es so«, flüsterte er, »wenn sie mich holen, ist es aus …«
Es läutete zum zweiten Mal.
Doktor Lamberti, von De Marchi scharf beobachtet, las kommentarlos die Ausdrucke.
»Und?«, fragte der Kommissär schließlich. »Tut mir leid, dass ich Sie dränge, aber Sie verstehen sicher, dass die Sache eine gewisse Dringlichkeit hat.«
Lamberti schob seine Brille höher und sagte: »Sie sehen mich verblüfft.«
»Tja, was glauben Sie, wie’s mir geht. Aber was ist Ihre Einschätzung?«
Der Psychiater seufzte.
»In wenigen Worten, nehme ich an?«
»Bitte.«
»Also«, begann Lamberti. »Es handelt sich um eine Seite eines elektronischen Briefes, nicht wahr …«
»Nennen wir’s E-Mail«, warf De Marchi ein.
»Gewiss, gewiss … kurz gesagt, um eine schriftliche Korrespondenz zwischen Porta und Contini, aus welcher eine Komplizenschaft dieser beiden bei der Durchführung der Verbrechen hervorgeht. Und die Rollen scheinen klar verteilt: Offenbar war der Vollstrecker ebenjener Porta, hingegen treibt der Detektiv ihn fortwährend an, ermutigt ihn, verspricht ihm, die Polizei auf falsche Fährten zu führen …«
»Stimmt das nicht mit seinem Profil überein?«
»Tja, in gewisser Weise nicht; Tatsache ist aber, dass mein Profil auf beide passt: Es wäre eine Begegnung zweier Einzelgänger, verstehen Sie, woraus eine ausweichende Freundschaft entstünde, in welcher Übermenschliches mitschwänge …«
»Ja.« De Marchi räusperte sich. »Also ist die Hypothese eines Bündnisses Porta-Contini nicht aus der Luft gegriffen?«
»Nein, ich würde eher sagen, was mich verblüfft, ist der Umstand, dass Porta sich das Leben genommen hat. Ich verstehe nicht, weshalb er plötzlich - und diesem Brief nach zu urteilen war es ein plötzlicher Entschluss - in einem Tun, das ihm kurz zuvor noch notwendig schien, keinen Sinn mehr erkennt.«
»Vielleicht hat Contini ihn umgebracht.«
»Aus welchem Grund?« Lamberti war mit einem Eifer bei der Sache, als diskutierten sie einen akademischen Fall. »Ich gestehe Ihnen ferner, lieber De Marchi, dass mich auch die Umstände stutzig machen.«
»Was Sie nicht sagen. Wieso?«
»Sie folgen keinem Muster. Die ersten beiden Morde gleichen einem
Weitere Kostenlose Bücher