Am Hang
bestimmend erwies, auch wenn es mir zum Zeitpunkt des Entscheids nicht wirklich klar war. Loos zog mich an. Genauer, unverdächtiger: Ich suchte widerstrebend seinen Bannkreis und nenne dieses Phänomen magnetisch, ja meinetwegen magisch. Mehr nicht dazu.
Ich ging in die Küche zurück und reinigte den Backofen, den mein Vorgänger und Miteigentümer an Ostern zu reinigen vergessen hatte. Ich blätterte in einer Frauenzeitschrift, die, ich erinnerte mich, noch von Valerie stammte. Die Frage, ob Frauen ihre Männer nach Schönheitskriterien wählen, war neuen Untersuchungen zufolge entschieden. Je nach Zyklusphase, las ich, variiere das Schönheitsideal von Frauen, und zwar bevorzugten sie in den fruchtbaren Tagen männliche Männer mit Muskeln und breiten Schultern, in der restlichen Zeit eher den weicheren Typus. – Die restliche Zeit ist punkto Dauer die Hauptzeit, dachte ich und machte trotzdem ein paar Liegestütze. Ein anderer Artikel zitierte eine Studie, wonach Männer wie Frauen Menschen mit blauen Augen als attraktiver und intelligenter einstufen als solche mit braunen oder grünen – ein Forschungsresultat, das mich begünstigte. Als ich die Zeitschrift weglegte, fiel mein Blick auf ihr Erscheinungsdatum, den 21. Juni des Vorjahrs. Kurz nach diesem Datum, also etwa zwei Wochen nach dem Tod von Loos’ Frau, mußte ich Valerie in Cademario geholt, zum Apéro hierhergebracht und dann ins Bellevue ausgeführt haben. Da dies, wie ich ganz sicher wußte, gegen Ende ihrer dritten und letzten Aufenthaltswoche stattgefunden hatte und da Loos’ Frau am 11. Juni nach fünftägigem Aufenthalt gestorben war, so konnte ich folgern, daß die zwei Frauen während ihrer Anfangswoche gleichzeitig im Kurhaus Cademario gewesen sein mußten. Obwohl für mich feststand, daß sie einander nicht kennengelernt haben konnten – das Kurhaus ist ja auch riesig –, da Valerie sonst, wie schon erwähnt, von diesem Todesfall berichtet hätte, brachte mich meine Entdeckung in eine Aufgeregtheit, die ich mir schwer erklären konnte. Irrationalerweise schien ich den Umstand, daß sich Loos’ Frau und Valerie vielleicht einmal kurz angeschaut und zugelächelt hatten, als etwas zu empfinden, das mich enger mit Loos verband. Er selbst hatte freilich zu erkennen gegeben, knapp, fast harsch, daß ihn derlei Koinzidenzen nicht interessierten, weshalb ich mir vornahm, ihn damit in Ruhe zu lassen. Es war ja ohnehin unklar, ob es nochmals zu einer Unterhaltung kommen würde. Man könnte sich ja morgen nochmals treffen, hatte Loos wörtlich gesagt – daran erinnerte ich mich so genau wie an manch anderes, denn nie, fast nie hat sich das alte Wort vom Wein, der das Gedächtnis töte, an mir bewährt –, und dieses Treffen konnte einen Händedruck bedeuten, eine kurze Verabschiedung, aber auch ein zweites gemeinsames Essen. Was wäre mir lieber gewesen? Ich wußte es nicht so recht, neigte dann doch zu letzterem. Vielleicht so wie ein Leser, der ein ereignisarmes Buch weglegen möchte, schließlich doch darin weiterliest – sei es in der Hoffnung oder Ahnung, das Entscheidende komme noch, sei es weil ihm das halb Erfahrene, das Abgebrochene und Unerledigte ungute Gefühle macht. Der Vergleich hinkt zwar insofern, als ich nicht selbst bestimmen konnte oder wollte, ob unser Gespräch eine Fortsetzung fand: Loos’ Lage und sein Altersvorsprung gaben ihm fraglos das Wunschrecht. Und was die unguten Gefühle betrifft, so habe ich sie jetzt, obwohl das Buch gelesen ist, erst recht. Ich wünschte, sie wären nur ungut.
Den Rest des Nachmittags verbrachte ich mit Nichtstun. Ich saß und ging in der Wohnung herum, hob eine Fussel auf, blies eine Krume vom Tisch, nach der ich mich nach einem neuerlichen Rundgang bückte. Untätigkeit ist mir verhaßt und setzt mich unter Streß. Herr, laß es Abend werden: Aus meinem Mund hat dieses Stoßgebet noch nie jemand vernommen. Nun aber vernahm ich es, und es wurde wie üblich erhört, so daß ich mich gegen sechs Uhr auf den Weg machen konnte, versehen mit einem Regenschirm und irgendwie bang gestimmt.
Die Terrasse war leer, ein Kellner damit beschäftigt, die nassen Tische und Stühle abzutrocknen. Als er merkte, daß ich ihm zusah, blickte er mehrmals zum verhangenen Himmel auf, skeptisch, wie um zu zeigen, daß ihm die mutmaßliche Vergeblichkeit seiner Verrichtung bewußt sei. Ich fragte, ob ich einen Aperitif bekommen könne. Er nickte, ich setzte mich an den gleichen Tisch wie am Vorabend, aber
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