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Am Hang

Am Hang

Titel: Am Hang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Werner
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auf den Stuhl, auf dem Loos gesessen hatte, und als der Kellner meinen Campari holen ging, schaute ich die Fassade des Hotels hoch und erstarrte. Das Fenster des Zimmers, das mir Loos als das seinige bezeichnet hatte, stand offen, und wenn es auch kein Jagdgewehr war, das ich auf mich gerichtet sah, sondern ein Fernrohr, so fühlte ich mich doch höchst unbehaglich, ja bedroht. Aber bevor ich Loos wirklich böse sein konnte, zeigte er sich im Fenster und winkte mir zu, begütigend, wie mir schien, und wenig später stand er verlegen vor mir. – Das war taktlos, sagte er, ich bitte um Entschuldigung, ich war dabei, den Dunst zu durchdringen, da sah ich Sie und konnte nicht anders, als Sie kurz ins Visier zu nehmen, verzeihen Sie, mein kleines Fernrohr dient sonst nur dazu, das Kurhaus Cademario heranzuholen, Sie sind recht blaß, wie geht es Ihnen? – Offen gestanden mäßig, sagte ich, und Ihnen? – Ich bin in spielerischer Laune, weiß Gott warum, sagte er und setzte sich mir gegenüber. Tatsächlich wirkte er anders als am Abend zuvor, gelöster, aufgeräumter, er strahlte Zugänglichkeit aus. – Sie bleiben doch zum Essen? fragte er. Gern, sagte ich, sofern Sie nicht lieber allein sein möchten. – Dann hätte ich nicht gefragt, von Pflichtgefühlen lasse ich mich kaum noch leiten. Je älter ich werde, desto penibler verlese ich sie und folge nur noch den paar wenigen, die sich auf halbem Weg mit meinen Neigungen treffen. Übrigens habe ich einen Tisch reserviert, drinnen, denn es besteht wenig Aussicht auf einen trockenen Abend. Warum geht es Ihnen nur mäßig? – Ich erzählte von meiner schwierigen Nacht, von meinem langen Liegenbleiben und meinem Unmut darüber, vom lahmen, verlorenen Tag. – Verlorene Tage gebe es nicht, meinte Loos, und Antriebsmangel, verstanden als ziviler Ungehorsam, als Gegenkraft zum großen Treiben, sei ein Symptom der Gesundheit. Alles, was der Verlangsamung diene, sogar ein ausgedehntes Frühstück, komme der Volksgesundheit zugute, die so gefährdet sei wie nie zuvor, weil mehr und mehr Menschen das Gefühl hätten, der rasenden Mechanik nicht mehr gewachsen zu sein und auf der Strecke zu bleiben. Ob sie es wahrhaben wollten oder nicht, ob sie es mit letztmöglicher Wendigkeit und munterem Schwung überspielten oder nicht: sie seien alle überfordert, restlos und pausenlos, und das mache krank. Hingegen die Tiere. Kein Tier auf Erden arbeite, mit Ausnahme vielleicht der Ameisen, Bienen und Maulwürfe, deren Geschäftigkeit aber nicht motiviert sei durch einen moralischen Imperativ. Die übrigen flanierten auf der Suche nach Futter ein bißchen herum, sofern es sich nicht um Haustiere handle wie Hunde oder Katzen. Ein Durchschnittshund zum Beispiel schlafe oder döse zwanzig Stunden am Tag, und ebenso gemütlich machten es sich die Katzen, seine Frau und er hätten ja eine gehabt, eine schwarze mit weißen Pfoten, seine Frau habe die Katze geliebt, er habe sie zu mögen versucht, aber gelegentlich Mühe gehabt, ihre unsägliche Faulheit zu billigen, sie habe sich einfach bedienen lassen und sei nach der Bedienung schnurrend im Halbschlaf versunken, während er auf die Uhr habe schauen müssen und aufbrechen müssen zur Arbeit, aber wenigstens seien diese Tiere im Unterschied zu den Menschen gesund und hätten ein glänzendes Fell.
    Herr Loos, sagte ich, mich hat ein ganz normaler Kater lahmgelegt, dem Sie allzuviel Ehre antun, wenn Sie ihn als Ausdruck zivilen Ungehorsams deuten und zum Anlaß eines Exkurses über Tierwelt und Volksgesundheit nehmen. – Loos bestellte ein Glas Weißwein, schwieg lange und antwortete erst, als es vor ihm stand. Sein Hang zu Exkursen sei ihm bewußt, sagte er, oft habe seine liebe Frau ihn darauf hingewiesen. Zudem erinnere er sich dunkel, von Überforderung schon gestern geredet zu haben. Er wiederhole sich also. Exkurse und Wiederholungen aber bedeuteten für jedes Gegenüber eine Zumutung, und da er nicht versprechen könne, beides zu lassen, gebiete ihm die Höflichkeit, sich jetzt zurückzuziehen.
    Loos meinte es ernst. Er stand auf und gab mir die Hand. Ich hielt sie fest, konsterniert, und sagte schließlich, ich hätte mich auf den Abend mit ihm sehr gefreut. – Wirklich? fragte er. – Wirklich, sagte ich und log ein bißchen, als ich ergänzte: Was Sie als Zumutung empfinden, stört mich nicht im geringsten. – Loos setzte sich und leerte sein Glas. Ruhig, als wäre nichts vorgefallen, nahm er den Faden wieder auf: Er kenne kaum

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