Am Hang
Stützzellen des Hirns. Meine Frau blieb gespenstisch gelassen, so daß ich glaubte, sie unterschätze die Gefahr, in der sie schwebte. Sie ließ einen Klavierstimmer kommen, als sei das jetzt das Dringlichste. Ein junger Blonder kam und stimmte ihr Klavier, auf dem sie kaum je spielte. Zwei Tage später, als ich aus der Schule kam – meine Frau war noch beim Arzt –, hörte ich den Anrufbeantworter ab, hörte die Stimme des jungen Blonden, Rossi hieß er, der Folgendes sagte: Frau Loos, ich möchte Ihre Beine küssen. – Mehr sagte er nicht, und ich war ziemlich betreten, allerdings auch besorgt. Der Bengel mußte im Verhalten meiner Frau etwas gewittert haben, das ihn zu seiner Kühnheit animierte. Dabei war meine Frau, was ihr Benehmen anderen Männern gegenüber anging, extrem verhalten, abweisend fast, nie habe ich bemerken können, daß sie, so wie die meisten Frauen, mit subtilen Signalen spielte. Ich war also besorgt, weil ich einmal gelesen hatte, daß Hirntumore auch zu Persönlichkeitsveränderungen führen können, und eine solche schien hier vorzuliegen, falls meine Frau dem jungen Mann tatsächlich ein Zeichen der Ermunterung gegeben haben sollte. Ich sagte zu ihr, als sie nach Hause kam, auf dem Anrufbeantworter befinde sich eine Nachricht für sie. Sie hörte sie ab und lachte laut und herzlich. Ob sie denn gar nicht schockiert sei, ob man den Burschen nicht in den Senkel stellen sollte, fragte ich. Ach wo, sagte sie, weißt du, ich hätte seine Annäherung vor kurzem noch als unverschämt empfunden, jetzt aber erscheint sie mir harmlos und herzig, ja sogar lustig.
Das Magnetresonanzbild meines Gehirns zwingt mich dazu, an mein baldiges Ende zu denken. Und sonderbarerweise kommt mir alles, fast alles, was ich jetzt zu diesem Ende in Beziehung setze und von ihm her zu sehen versuche, irgendwie lustig vor, verstehst du, es verliert an Gewicht. – Als ich meiner Frau zu erkennen gab, daß ich wisse, was sie meine, sagte sie etwas, was ich nicht verstand und auch heute noch nicht verstehe. Sie habe sich, sagte sie, oft vergeblich gewünscht, von mir nicht immer verstanden zu werden. Ich bat sie darum, den Satz zu erläutern, sie lehnte ab. Kurzum, ich wollte eigentlich nur sagen, daß meine Frau, entgegen meiner Vermutung, den Ernst ihrer Lage durchaus nicht verkannte. Und doch ist sie heiter geblieben, während ich selbst fast verrückt geworden bin vor Angst und Sorge und Ohnmacht. Sie tröstete mich statt umgekehrt. Sie erzählte zum Beispiel, sie habe vor längerem eine Radiosendung gehört, in der es um ein altes Volk gegangen sei, um dessen sonderbaren Brauch, die Neugeborenen wehklagend willkommen zu heißen und alle Übel aufzuzählen, die auf sie warteten. Die Toten aber habe dieses Volk mit Freude und unter Scherzen bestattet, weil sie den Leiden des Lebens endlich entronnen seien. Ob mir diese Sitte nicht auch gefalle, fragte mich meine Frau. Ich verschwieg, daß mir die Sitte der Thraker bekannt war, und sagte: Irgendwie schon, trotzdem macht mich die Vorstellung von Freudentänzen um mein Grab herum ein bißchen melancholisch. – Mich nicht, sagte sie, mich würde es freuen, dich tanzen zu sehn. – Du wirst es erleben, sagte ich zu ihr, sobald du geheilt bist, werde ich tanzen. – Mit mir? fragte sie. Mit dir, sagte ich.
Wir haben dann doch nicht getanzt, sagte Loos, wir haben nur einmal miteinander getanzt, an unserer Hochzeitsfeier, dann aber nie mehr. Ich habe mit siebzehn einen Tanzkurs besucht, am ersten Abend hat ein Mädchen, das nach Lavendelseife roch, zu mir gesagt, ich solle nicht so hopsen. Am Schluß des dritten Abends war sogenannte Damenwahl, ich wartete umsonst darauf, gewählt zu werden, und blieb als überschüssig sitzen. Ich kam mir vor wie ein verkrüppeltes Kalb auf dem Viehmarkt, für mich stand außer Frage, daß ich nie eine Freundin finden würde, geschweige denn eine Frau. Den Tanzkurs habe ich abgebrochen, ich habe nie mehr getanzt bis zur Hochzeit, und auch da nur ganz kurz und gleichsam selbstironisch. Sie könne jederzeit tanzen gehn, wenn ihr der Sinn danach stehe, habe ich später noch manchmal gesagt, und sie hat immer erklärt, das Tanzen bedeute ihr nichts. Und dabei hatte ich, als ich sie kennenlernte, sogar geglaubt, sie sei womöglich eine Ballerina, so nämlich hat sie ausgesehen mit ihrer grazilen Figur. Eine Ballerina mit Hund, die mir auf einem Feldweg entgegenkam. Ich ausnahmsweise auch mit Hund, mit dem Dackel meiner Vermieterin, die mich
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