Am Helllichten Tag
Minuten klopft Vincent und fragt, wann sie endlich fertig sei.
Sie reagiert nicht, sondern singt weiter und lässt sich auch nicht aus der Ruhe bringen, als nach einer Weile andere Stimmen zu hören sind: Mitreisende, die die Toilette benutzen wollen.
Jemand holt schließlich den Schaffner, der sie barsch auffordert herauszukommen.
Nathalie bleibt, wo sie ist.
Sie hört den Schaffner sagen, dann werde er die Tür eben von außen mit einem Schlüssel öffnen.
Schnell streckt sie die Hand aus, packt die Klinke und hält sie eisern fest. Die Angst verleiht ihr ungeahnte Kräfte.
Erst als per Lautsprecher angesagt wird, der Zug erreiche in Kürze Arth-Goldau, lässt sie die Türklinke los.
Sie holt rasch ein paar Geldbündel aus der Tasche, zieht die Gummibänder ab und legt die Scheine ganz zuoberst wieder hinein.
Als der Zug bremst, steht sie auf, hängt sich die Tasche um und verlässt mit Robbie auf dem Arm die Toilette.
Wie erwartet, herrscht Gedränge im Gang. Ein paar Leute drehen sich zu ihr um und sehen sie befremdet an, auch der Schaffner.
Vincent bedenkt sie mit einem so vernichtenden Blick, dass es sie trotz der Hitze kalt überläuft.
Rasch sieht sie weg und stellt sich zum Aussteigen an.
Der Schaffner fragt nach ihrem Fahrschein. Sie zeigt ihn vor, wirft dabei einen verstohlenen Seitenblick auf Vincent.
Seelenruhig und mit Schweizer Gründlichkeit nimmt der Mann das Ticket in Augenschein. Weil nichts zu beanstanden ist, gibt er es wieder zurück, nicht ohne zu fragen, warum sie sich in der Toilette verbarrikadiert habe.
Nathalie tut, als hätte sie nicht verstanden, und kehrt ihm den Rücken zu. Gleich kann sie aussteigen – nur noch zwei, drei Leute sind vor ihr.
»Fräulein!« Der Schaffner tippt ihr auf die Schulter, sie reagiert nicht.
Die Frau vor ihr steht bereits auf dem Bahnsteig, wo eine Menge Leute darauf warten, einsteigen zu können.
Sie setzt den Fuß auf die erste Stufe, tut so, als verlöre sie das Gleichgewicht, greift blitzschnell in die Tasche und wirft eine Handvoll Geldscheine von sich.
Sie flattern durch die Luft, trudeln zu Boden, landen auf dem Bahnsteig, ein paar sogar auf den Gleisen.
»Mein Geld, mein Geld!«, schreit sie und hält sich im Fallen an einem Mann neben der offenen Tür fest.
Ein paar Leute bücken sich, klauben Scheine auf und halten sie Nathalie hin, andere haben keine Skrupel, sie rasch einzustecken, wieder andere, die es mitbekommen, empören sich lautstark darüber. Zwei halbwüchsige Jungen legen sich bäuchlings auf den Bahnsteig und versuchen, an das Geld auf den Gleisen heranzukommen. Passanten stolpern über sie und schimpfen. Kurzum: Das Chaos ist perfekt.
Nathalie nutzt ihre Chance und stürmt zur Treppe. Als sie sich kurz umsieht, bemerkt sie, wie Vincent sich mit den Ellbogen durch die aufgeregte Menge arbeitet.
Als er die Treppe erreicht, ist sie bereits unten, rennt die Unterführung entlang und eilt zum nächsten Bahnsteig hoch. Von oben ertönt ein Pfeifsignal.
»Halt!« Keuchend nimmt sie die letzten Stufen, erreicht den Bahnsteig und läuft auf den abfahrbereiten Zug zu. Der Schaffner hält die Tür auf und macht ihr ein Zeichen, sich zu beeilen.
Der Zug hat sich bereits in Bewegung gesetzt, als Vincent oben an der Treppe auftaucht. Sein Gesicht ist wutverzerrt. Mit ein paar langen Schritten ist er bei der nach wie vor offenen Tür. Der Schaffner versucht ihn abzuwehren, was Vincent wenig beeindruckt. Mit einem Satz ist er im Zug, und die Tür schließt sich.
Noch völlig außer Atem tritt Nathalie hinter dem Kiosk auf dem Bahnsteig hervor. Sie lehnt sich an die Wand und sieht mit wild klopfendem Herzen zu, wie der Zug davonrollt.
25
Es ist ruhig auf dem Friedhof. Sonst sieht Julia immer ein paar Leute die Wege entlanggehen, Blumen auf Gräber legen oder auf den Bänken sitzen – doch an diesem Sonntagnachmittag ist kaum jemand hier, was sie nicht weiter verwundert, denn es ist brütend heiß.
Das Laub der alten Eichen hat sich durch die lange Trockenheit bräunlich verfärbt, die Blumen lassen die Köpfe hängen, und die marmornen Grabplatten leuchten so grell in der Sonne, dass es in den Augen schmerzt.
Julia genießt das Alleinsein und die Stille. Der sonntägliche Gang zum Städtischen Friedhof ist ihr zu einer lieben Gewohnheit geworden, die sie nicht missen möchte. Sie kommt sich hier vor wie in einer Zwischenwelt, in der sich Diesseits und Jenseits vermischen und ihr das Gefühl geben, ihren Eltern nahe zu
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