Am Helllichten Tag
zehn Prozent wöchentlich. Julia war über dieses Ergebnis erschrocken, vor allem über die Tatsache, dass nur zwölf Prozent dieser Frauen Anzeige erstatten. Das scheint mit der Tatsache zusammenzuhängen, dass sie von ihren Männern abhängig sind, aber auch damit, dass Polizei und Justiz die Anzeigen derer, die sich dazu aufraffen, oft nicht ernst genug nehmen.
Also dringt Julia fürs Erste nicht weiter in sie.
Die Ampel wird grün, und sie fahren weiter, an wogenden Kornfeldern vorbei.
Nathalie hält Robbie fest, der zu strampeln begonnen hat und versucht, sich aus dem Sicherheitsgurt zu befreien.
»Ihre Großmutter vermietet also Zimmer?«, fragt sie.
»Ja. Sie ist einundachtzig, aber noch sehr rüstig. Sie steckt voller Pläne und kümmert sich um alles und jeden. Manchmal denke ich, sie übernimmt sich. Im Grunde wird es ihr manchmal zu viel, aber sie würde sich eher die Zunge abbeißen, als das zuzugeben.«
Ein Lächeln umspielt Nathalies Mund. »Das hört sich an, als wäre sie nett.«
»Meine Oma ist eine großartige Frau«, bestätigt Julia. »Nach dem Tod meiner Eltern hat sie mich sofort bei sich aufgenommen. Sonst wäre ich in einem Heim gelandet oder bei einer Pflegefamilie. Vielleicht hätte ich es dort gut gehabt, aber das ist doch was anderes als die eigene Familie.«
»Ach ja …«
Es klingt ganz so, als hätte Nathalie in dieser Hinsicht auch ihre Erfahrungen. Julia wirft ihr einen besorgten Blick zu. Hof fentlich hat sie keinen wunden Punkt angesprochen.
Zu ihrer Verwunderung scheint Nathalie damit kein Problem zu haben. »Meine Mutter ist gestorben, als ich zehn war«, sagt sie. »Und mit siebzehn habe ich meinen Vater verloren.«
Dann ist es still; mehr will sie anscheinend nicht dazu sagen. Sie nimmt Robbie, der gerade seine Söckchen abstreifen will, bei der Hand.
Bis Sint Odilienberg fällt kein weiteres Wort.
Als sie über die Rur-Brücke fahren, zeigt Julia nach rechts, auf die Türme der Basilika hinter dem Grün des Flussufers.
»Schön, nicht wahr? Ich genieße diesen Anblick immer wieder.«
Nathalie nickt. Sie wirkt ein wenig erschöpft und auch verunsichert, so als wären ihr inzwischen Bedenken gekommen.
Julia legt ihr tröstend die Hand auf den Arm. »Alles wird gut«, sagt sie. Dann setzt sie den Blinker und biegt rechts ab ins Dorf.
Sie fahren am Rathaus vorbei, dessen Eingang mit üppig blühenden Geranien geschmückt ist, und an Straßencafés, in denen Leute im Schatten der Bäume sitzen, Kaffee trinken und sich den typischen Limburger Vlaai schmecken lassen. Auf dem Kirchplatz ragt eine schneeweiße Christusstatue auf.
Julia hält in einer Seitenstraße vor einem schmucken Fachwerkhaus mit Blumenkästen an den Fenstern.
»Wir sind da. Hier wohnt meine Oma.«
Emma Vriens steht bereits in der Tür. Sie begrüßt Nathalie ebenso herzlich wie ihre Enkelin und streckt sogleich die Arme nach Robbie aus.
Nathalie zögert einen Moment, bevor sie ihr das Kind gibt.
Während Emma ins Haus geht, holen sie und Julia den Kinderwagen und das Gepäck, das sie vorher noch in Nathalies Pension in Maastricht abgeholt haben, aus dem Kofferraum und treten dann ebenfalls ein.
Weil Robbie strampelt und schreit, nimmt Nathalie ihn wieder auf den Arm.
»Wie wär’s mit einer Tasse Tee?« Emma ist bereits auf dem Weg in die Küche, um Wasser aufzusetzen.
Julia folgt ihr, holt Geschirr aus dem Schrank und Besteck aus der Schublade. Dabei wirft sie einen Blick ins Wohnzimmer, wo Nathalie mit dem weinenden Kind auf und ab geht und sich offensichtlich über die unzähligen Kartons und Plastiktüten wundert.
»Am besten, du fragst sie nicht aus«, sagt Julia zu ihrer Großmutter. »Sie muss sich vor ihrem Ex verstecken. Er hat sie geschlagen, und sie redet verständlicherweise nicht gern darüber.«
»Meine Güte, das arme Mädchen!« Kopfschüttelnd schneidet Emma drei große Stücke von ihrem frisch gebackenen Kirschkuchen ab, legt sie auf Dessertteller und folgt Julia, die das Tablett trägt, ins Wohnzimmer.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Kind«, sagt sie zu Nathalie. »Der Kerl kommt hier nicht rein. Dafür sorgt schon meine Enkelin, die ist nämlich bei der Kripo.«
27
Das Zimmer ist groß und sauber, wenn auch für Nathalies Geschmack etwas altmodisch eingerichtet. Neben dem Doppelbett stehen ein Tisch und zwei Stühle, auf der Kommode ein Fernseher und ein Radio, und links vom Kleiderschrank befindet sich ein gut bestücktes Bücherregal. Sogar eine Nische mit
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