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Am Helllichten Tag

Am Helllichten Tag

Titel: Am Helllichten Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone van Der Vlugt
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all den Jahren ganz selbstverständlich zu meinem Leben dazu, verstehen Sie?«
    Die Frau nickt und lässt den Blick über die Gräberreihen schweifen.
    Sie muss am Grab ihres Mannes oder Freundes gewesen sein, irgendwo da drüben, denkt Julia, unterlässt es aber tunlichst, zu fragen.
    Zu ihrer Überraschung verspürt die Frau jetzt anscheinend doch das Bedürfnis zu reden.
    »Ich denke oft, es wäre besser, niemanden zu lieben. Nicht mit Haut und Haar, meine ich. Es ist schön, wenn man sich mit anderen gut versteht, meinetwegen auch befreundet ist. Aber sobald man tiefere Gefühle entwickelt, müsste eigentlich eine Warnsirene losschrillen! Alarmstufe eins, langsamer Rückzug.«
    Julia schweigt, nicht aus Verlegenheit, sondern weil sie nur zu gut versteht. Um nicht den Eindruck zu erwecken, sie interessiere sich nicht für das, was die Frau zu sagen hat, zeigt sie auf das Baby.
    »Sie haben ein Kind. Ist das nicht ein Trost?«
    »Schon«, kommt es leise, »aber ich hab solche Angst, dass ich den Kleinen auch noch verliere.«
    Auf diese Antwort war Julia ganz und gar nicht gefasst.
    »Warum? Ist Ihr Kind krank?«
    »Nein, nein, Robbie ist kerngesund. Ich hab nur …« Sie beißt sich auf die Unterlippe, als würde ihr plötzlich klar, dass sie schon zu viel von sich preisgegeben hat.
    Spätestens jetzt ist sich Julia ganz sicher, dass sie dringend Hilfe braucht. Diese Begegnung auf dem Friedhof ist kein Zufall, denkt sie, ebenso wenig wie alles andere im Leben. Sie ist mir über den Weg gelaufen, weil es meine Aufgabe ist, ihr zu helfen.
    »Kann ich irgendetwas für Sie tun?«, fragt sie.
    »Ich habe solche Angst«, flüstert die Frau und schluckt mehrmals, um die Tränen zurückzuhalten. »Ich weiß einfach nicht mehr weiter.«
    Eine kleine Weile sind nur das Zwitschern der Vögel und gedämpfter Verkehrslärm aus der Ferne zu hören.
    Julia weiß, dass sie jetzt, wo die Frau offenbar Vertrauen zu ihr gefasst hat, äußert vorsichtig sein muss. Mit weiteren Fragen würde sie sie nur verstören, auch wenn sie zu gern wüsste, was mit ihr los ist.
    »Sie brauchen nichts zu erzählen, wenn Ihnen nicht danach ist«, sagt sie. »Aber wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, tu ich das gern.«
    Anscheinend hat sie die rechten Worte gefunden, denn nach kurzem Schweigen und einem tiefen Seufzer sagt die Frau: »Ich brauche eine Unterkunft. Einen Ort, wo mich keiner findet.«

26
    Nach einem kurzen Anruf bei Julias Oma ist die junge Frau untergebracht. Sie hat sich als Nathalie vorgestellt, und Julia hat bisher auch nur ihren Vornamen genannt.
    Auf dem Weg nach Sint Odilienberg denkt sie, dass es doch besser wäre, sie wüsste ein wenig mehr über die künftige Untermieterin, schon im Interesse ihrer Großmutter. Am besten, sie fragt geradeheraus, was Sache ist.
    Nathalie sitzt mit Robbie auf dem Schoß neben ihr; der Kinderwagen liegt zusammengeklappt im Kofferraum.
    Auf Julias direkte Frage schweigt sie zunächst, nestelt an Robbies T-Shirt und scheint zu überlegen, wie viel sie sagen kann und soll.
    »Na gut«, meint sie schließlich. »Sie haben keinerlei Veranlassung, mir zu helfen, und tun es trotzdem. Also haben Sie auch ein Recht darauf, mehr zu wissen. Es ist wegen meines Ex. Wir haben etliche Jahre zusammengelebt, und vor Kurzem habe ich ihn verlassen. Das heißt, ich bin geflohen.«
    Julia bremst vor einer roten Ampel. »Und warum?«, fragt sie.
    »Weil er mich vollkommen vereinnahmt und schlägt. Ich wollte schon länger weg, habe mich aber nicht getraut. Dass er neulich auf Robbie losging, hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Ich hab ihm einen Gegenstand über den Kopf gezogen, eine Lampe.« Ihre Stimme klingt ruhig, emotionslos, als ginge sie das alles gar nichts mehr an. »Es war Notwehr, aber als er dann umfiel und sich nicht mehr rührte, bin ich furchtbar erschrocken. Weil ich dachte, ich hätte ihn totgeschlagen, bin ich Hals über Kopf davongelaufen. Später hat sich rausgestellt, dass er nur verletzt war.«
    »Und jetzt ist er hinter Ihnen her?«
    In Nathalies Gesicht zuckt es. »Ja, und wenn er mich findet …« Sie wird blass.
    Nun wäre der richtige Augenblick, ihr zu sagen, dass ich bei der Kripo arbeite, denkt Julia. Doch sie weiß aus Erfahrung, dass sie die Frau damit eher verschrecken würde. Häusliche Gewalt ist nun einmal ein heikles Thema. Ihr fallen die Untersuchungen wieder ein, die belegen, dass gut vierzig Prozent aller Frauen irgendwann von ihrem Partner geschlagen werden – davon

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