Am Helllichten Tag
sein.
Ihr Unfalltod ist nun schon so lange her, dass keine Tränen mehr fließen, wenn sie ihren Erinnerungen nachhängt, die sich im Lauf der Zeit ein wenig getrübt haben.
Lange hatte sie überhaupt nicht mehr an die vielen Streitereien mit ihrem Vater gedacht, der sie recht streng erzog und ihr vieles verbot. Auch nicht an den Zorn auf ihre Mutter, die ihm grundsätzlich nicht widersprach und deshalb auch nie Partei für sie ergriff. Umso deutlicher erinnert sie sich daran, wie sehr ihr Vater in seinem Beruf aufging und dass ihre Mutter alles tat, um das Familienleben harmonisch zu gestalten. So hatte sie sich mit der Zeit ein idealisiertes Bild von der Vergangen heit geschaffen.
Erst als sie letztes Jahr ihre alten Tagebücher hervorkramte und darin las, wurde ihr klar, dass in ihrer Teenagerzeit längst nicht alles eitel Sonnenschein war und es harte Auseinandersetzungen mit den Eltern, besonders mit dem Vater, gab.
Dass sie die Dinge nun in einem etwas anderen Licht und damit realistischer sieht, bedeutet jedoch nicht, dass ihr die Eltern weniger fehlen. Sie hat sie geliebt und weiß, dass sie stets nur ihr Bestes wollten.
Mit einem Mal wird ihr bewusst, dass sie nun, mit einunddreißig, länger ohne ihre Eltern gelebt hat als mit ihnen. Dieser Gedanke macht sie so betroffen, dass doch noch ein paar Tränen kommen.
Julia blinzelt sie weg und beschließt, nach Hause zu gehen.
Sie will gerade aufstehen, als sie eine Frau sieht. Vor einer Viertelstunde ist sie mit ihrem Kinderwagen schon einmal an ihr vorbeigegangen, einen Strauß Sonnenblumen unterm Arm.
Als sie näher kommt, sieht Julia, dass sie noch sehr jung ist, allenfalls zwei- oder dreiundzwanzig – und dass sie weint. Immer wieder wischt sie sich die Augen.
Als sie Julias Blick bemerkt, bleibt sie unvermittelt stehen.
»Alles in Ordnung?«, fragt Julia mitfühlend.
Die Frau nickt und schickt sich an weiterzugehen. Da ertönt ein klägliches Wimmern aus dem Kinderwagen. Sie seufzt auf, beugt sich resigniert darüber.
Die Arme ist völlig fertig, denkt Julia. Sie hat einen geliebten Menschen verloren und steht jetzt allein mit dem kleinen Kind da …
»Setzen Sie sich doch einen Moment!«, sagt sie freundlich.
Die Frau mustert sie argwöhnisch, als vermute sie eine Hinterlist, und will anscheinend lieber weitergehen. Doch weil das Weinen des Babys sich inzwischen zu einem regelrechten Zornesgebrüll gesteigert hat, nimmt sie es aus dem Wagen und setzt sich ganz ans Ende der Bank. Dabei hat sie Julia halb den Rücken zugekehrt.
Sie drückt das Kind, das ungefähr in Joeys Alter sein muss, an sich und flüstert ihm Koseworte zu.
Ohne Julia anzusehen, nimmt sie eine Tasche vom Gepäckgitter und holt eine gefüllte Nuckelflasche heraus. Routiniert schraubt sie den Schnulleraufsatz ab und entfernt den Auslaufschutz.
Das Baby – offenbar ein Junge, da es fast ganz in Blau gekleidet ist – streckt ungeduldig die Händchen nach der Flasche aus.
»Der Kleine scheint mächtig Hunger zu haben«, meint Julia lächelnd.
Die Frau nickt nach wie vor mit abgewandtem Blick. Sie setzt das Kind richtig hin und lässt es trinken. Dabei hat sie den Kopf geneigt, sodass ihr die halblangen dunklen Locken wie ein Vorhang vors Gesicht fallen, sie abschotten.
»Wie heißt er denn?«
Leise und zögerlich kommt die Antwort: »Robbie.«
»Hübscher Name.«
Der Kleine trinkt friedlich, bekommt nicht mit, wie angespannt seine Mutter ist.
Julia ist nicht weiter verwundert darüber, dass die junge Frau sich so reserviert gibt. Im Zuge ihrer Arbeit hat sie sich eine gehörige Portion Menschenkenntnis angeeignet, zumal sie häufig mit Leuten zu tun hat, die ganz offensichtlich Hilfe brauchen, sich aber dagegen sperren.
Damit die Frau sich nicht bedrängt fühlt, beginnt Julia, von sich zu erzählen: dass ihre Eltern hier begraben seien, dass sie jeden Sonntag ihr Grab aufsuche, sich gern auf dem Friedhof aufhalte …
Dass sie keine neugierigen Fragen stellt, scheint die Frau zu beruhigen, denn ihre Haltung entspannt sich ein wenig. Sie setzt sich so, dass sie Julia nicht mehr den Rücken zuwendet.
Nachdem Julia geendet hat, herrscht minutenlang Schweigen. Dann räuspert sich die Frau und sagt: »Ihre Eltern fehlen Ihnen wohl sehr?« Sie wirft ihr einen scheuen Blick zu, als befürchte sie, ihr damit zu nahezutreten.
»Ja«, sagt Julia, »und das wird auch immer so bleiben, aber …« Sie sucht nach den richtigen Worten. »Die Trauer um sie gehört nach
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