Am Helllichten Tag
Julia Zweifel, ob sie nun ihren Vater oder ihren Exfreund meint, doch eines merkt sie deutlich: dass neben ihr jemand sitzt, der psychisch am Ende ist.
»Warum sind Sie bei Ihrem Freund geblieben?«, fragt sie, als Nathalie geendet hat. »Und nicht gegangen, als Sie merkten, dass er so ist wie Ihr Vater?«
»Er ist ja nicht wie mein Vater. Er hat mich nur geschlagen, wenn ich es darauf angelegt habe und …«
Julia unterbricht: »Nathalie, Sie müssen sich klarmachen, dass kein Mensch es je darauf anlegt, geschlagen zu werden. Was immer Sie in seinen Augen falsch gemacht haben – er hat kein Recht, Sie zu misshandeln.«
Nathalie hat beim Sprechen nervös die Finger verknotet. Sie senkt den Blick. »Ich habe solche Angst, dass er mich findet. Er hat immer wieder gesagt, dass er mich umbringt, wenn ich ihn verlasse. Und jetzt bin ich gegangen … und hab ihn auch noch zusammengeschlagen! Wenn er mich erwischt, bin ich tot.«
Heiße Wut steigt in Julia auf, gleichzeitig fragt sie sich, was wohl passiert, wenn dieser unberechenbare Kerl hier auftauchen sollte.
»In Venlo gibt es ein Frauenhaus«, sagt sie. »Ich erkundige mich, ob Sie dort unterkommen können.«
Nathalie scheint von dem Vorschlag nicht sonderlich angetan zu sein. »Hmmm …«
»Gleich morgen rufe ich dort an«, fährt Julia fort. »Bis dahin sind Sie bei meiner Großmutter gut aufgehoben. Oder meinen Sie, Ihr Ex hat womöglich mitbekommen, dass Sie hier sind?«
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Gut. Ich gebe Ihnen für alle Fälle meine Handynummer. Wenn Sie auch nur das Gefühl haben, er könnte in der Nähe sein, rufen Sie mich sofort an – versprochen?« Sie nimmt Papier und Bleistift aus ihrer Handtasche und notiert ihre Nummer.
»Sie arbeiten tatsächlich bei der Kripo?«, fragt Nathalie, als sie nach dem Zettel greift.
»Ja, in Roermond. Ich bin also nicht weit weg.«
»Tragen Sie eine Pistole bei sich?« Ihr Blick wandert über Julias weiße Leinenhose und das schwarze Top.
»Nur im Dienst. Wenn ich freihabe, wie jetzt, ist die Waffe auf dem Revier eingeschlossen.«
»Und privat? Ich meine, vielleicht ist Schießen ja auch ein Hobby von Ihnen?«
»Ich bin Mitglied in einem Schützenverein«, sagt Julia. »Aber auch als solches trägt man keine Waffen mit sich herum, sondern ist verpflichtet, sie zu Hause in einem abschließbaren Schrank aufzubewahren. Das wird hin und wieder kontrolliert.«
»Aber wenn er nun nachts kommt …?«
Es klingt so verängstigt, dass Julia mulmig wird. Was, wenn dieser skrupellose Mensch plötzlich vor der Tür ihrer Großmutter steht?
Halb bereut sie den Entschluss, Nathalie eine Zuflucht geboten zu haben. Gleich morgen früh will sie sich darum kümmern, dass sie woanders wohnen kann.
»Wie heißt Ihr Exfreund?«, fragt sie.
»Bob.«
»Und mit Nachnamen?«
»Das sage ich lieber nicht.«
»Wenn Sie Anzeige erstatten, können wir ihn aufs Revier bringen und vernehmen«, gibt Julia zu bedenken.
»Und wenn Sie ihn dann wieder laufen lassen, bringt er mich um!«
»Sie können sich ohnehin nicht ewig vor ihm verstecken. Zeigen Sie ihn an, Nathalie, dann haben wir etwas gegen ihn in der Hand. Sie müssen das nicht allein durchstehen. Ich verspreche, dass ich Sie nicht im Stich lasse.«
Nathalie betrachtet eingehend ihre Hände mit den abgekauten Fingernägeln. Ihr ist anzusehen, dass sie einen inneren Kampf ausficht.
Als sie Julia mit großen Augen ansieht und sagt, sie brauche etwas Bedenkzeit, kann diese ihr die Bitte nicht abschlagen.
28
Roermond hat sich kaum verändert, seit sie nicht mehr dort wohnt. Langsam geht Nathalie durch die vertrauten Straßen der Stadt, in der sie aufgewachsen ist und Vincent kennengelernt hat. Aus dem Augenwinkel behält sie die Passanten im Blick und ist auf der Hut, obgleich sie sich unter Men schen relativ sicher fühlt. Falls Vincent plötzlich auftauchen sollte, würde er sich hüten, sie in aller Öffentlichkeit anzu greifen.
Robbie hat sie in Emmas Obhut zurückgelassen, zumal es nicht lange dauern wird, das zu erledigen, was sie sich vorgenommen hat.
Nachdem sie am Marktplatz Kaffee getrunken hat, klingelt sie an einem Haus am Rand der Altstadt. Dort wohnt ein Waffenhändler, mit dem sie und Vincent in der Vergangenheit des Öfteren zu tun hatten. Und da sie sich mit Waffen auskennt, weiß sie genau, was sie will: eine Glock 26, eine kleine, handliche Damenpistole.
Anschließend nimmt sie den Bus nach Donderberg. An der Sporthalle steigt sie aus
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