Am Helllichten Tag
hat sich auch beruhigt, bis es dann die Windel voll hatte.« Sie wirft einen vielsagenden Blick auf das noch immer strampelnde Baby und gibt ihm seinen Frotteeteddy in die Hand.
Überraschend gewandt wickelt sie das Kind zu Ende, zieht ihm die Hose über und nimmt es auf den Arm.
»Warum geben Sie das Baby als Jungen aus?«, fragt sie.
Nathalie zögert mit der Antwort. Ihr Gehirn arbeitet auf Hochtouren, sucht nach einer Lösung, einem Ausweg.
Der forschende Blick der alten Frau irritiert sie maßlos.
»Weil ich meinen Ex hinters Licht führen wollte«, sagt sie schließlich nach einem tiefen Seufzer. »Er hat jede Menge Kontakte, und ich wollte verhindern, dass ich an der Grenze geschnappt werde. Ich war mit einem falschen Pass unterwegs, und der Bekannte, der ihn mir besorgt hat, hat mir geraten, meine Tochter als Jungen auszugeben, für den Fall, dass man nach einer Frau mit einem kleinen Mädchen Ausschau hält.«
»Sie kennen Leute, die Pässe fälschen?« Emma mustert sie argwöhnisch. »Und die Pistole, haben Sie die auch von diesem Bekannten?«
»Ja.«
»Ich will nicht, dass jemand in meinem Haus mit Waffen hantiert.«
»Verstehe.«
»Ist Ihr Exfreund denn so gefährlich?«
Nathalie nickt.
»Das mit den falschen Papieren und dass Sie sich verteidigen wollen, leuchtet mir ja noch ein«, sagt Emma. »Aber die Sache mit dem Kind finde ich mehr als seltsam.«
»Ich hab’s doch gerade erklärt.«
Nathalie spürt, dass Emma ihr die Geschichte, die in der Tat wenig glaubhaft ist, nicht so recht abnimmt.
»Würden Sie es trotzdem bitte für sich behalten?«, sagt sie und nimmt ihr das Baby ab.
»Wem sollte ich es denn erzählen?«
»Zum Beispiel Ihrer Enkelin.«
»Julia? Aber die darf das doch wohl wissen.« Emma sieht Nathalie durchdringend an.
»Es wäre besser, wenn möglichst wenig Leute davon wissen. Ein Geheimnis bleibt nur geheim, wenn es keiner weitersagt. Niemandem.«
»Julia plaudert nichts aus, die kann schweigen.« Emma schickt sich an, aus dem Zimmer zu gehen. In der Tür dreht sie sich um: »Aber wenn Sie partout nicht wollen, dass Julia es erfährt, sage ich eben nichts. Tee?« Es klingt barsch, ganz und gar nicht wie eine Einladung.
»Gern …« Nathalie folgt ihr zur Treppe.
Emma greift nach dem Handlauf und setzt den Fuß unsicher auf die erste Stufe.
»Vorsicht, halten Sie sich gut fest«, sagt Nathalie.
»Ja, so eine steile Treppe ist nichts für alte Leute. Ich habe mir schon überlegt, ob ich nicht besser unten schlafe, aber hier oben ist so viel zu tun und zu räumen …«
»Soll ich vorgehen? Dann kann ich Ihnen die Hand geben«, bietet Nathalie an.
»Das wäre gut. Kommen Sie vorbei?«
»Geht schon.« Nathalie legt Robbie auf dem Teppichboden ab und tritt hinter Emma, die den Handlauf loslässt, damit sie an ihr vorbeikann.
Im nächsten Moment gerät die alte Frau ins Wanken. Nathalie will sie eigentlich festhalten, doch dann versetzt sie ihr unversehens einen Stoß.
Emma schreit auf, greift ins Leere und stürzt kopfüber die Treppe hinab.
Unten bleibt sie reglos liegen, halb auf dem Boden, halb auf den untersten Stufen.
29
Die Arbeitswoche beginnt wie immer mit einer Dienstbesprechung. Anschließend steht man noch eine Weile zusammen, studiert den Einsatzplan und tauscht Informationen über das Wochenende aus.
Julia holt sich einen Becher Kaffee, geht ins Büro und sieht als Erstes die Notizen von den Kollegen durch, die am Samstag und Sonntag Dienst hatten. Sie erledigt ein paar Telefonate, checkt ihre Mails und beantwortet die wichtigsten sofort. Dann macht sie sich an den Wochenbericht für Ramakers.
Erst um halb eins sieht sie wieder auf die Uhr. Zeit für die Mittagspause. Sjoerd und die anderen sind offenbar schon zum Essen gegangen.
Julia geht in die Kantine im obersten Stockwerk. Sie lässt sich ein Brötchen mit Geflügelsalat und einen Becher Milch geben und trägt das Tablett ins Freie, auf die Dachterrasse.
Gedankenverloren blickt sie hinab auf das Wasser der Rur. Als ihr jemand auf die Schulter tippt, zuckt sie zusammen.
Neben ihr steht Sjoerd. Sie will ihn schon auffordern, sich dazuzusetzen, zögert jedoch, als sie seine Miene sieht.
»Julia …«
Der Blick, die Stimme, die Haltung – alles verrät Betroffenheit, so als hätte er ihr etwas Unangenehmes mitzuteilen.
»Was ist?«
Er schluckt ein paarmal, dann fängt er an zu reden.
Julia kann kaum fassen, was sie da hört, will es auch gar nicht wahrhaben. Sie hört die Vögel
Weitere Kostenlose Bücher