Am Helllichten Tag
fragt Sjoerd.
»Ja, von Nathalie, der jungen Frau, die bei meiner Oma untergekommen ist. Ich hab sie am Sonntag auf dem Städtischen Friedhof kennengelernt. Sie war völlig verstört und brauchte Hilfe, da habe ich mich um sie gekümmert. Oder besser, meine Oma.« Sie beißt sich auf die Unterlippe, in ihrem Gesicht zuckt es. »Sie hat gesagt, ihr Ex verfolge sie, weil sie ihn verlassen hat. Sie hatte eine Riesenangst vor ihm – mit Recht, wenn man sich das hier ansieht. Ich habe ihr angeboten, mich um einen Platz im Frauenhaus in Venlo zu kümmern, und ihr geraten, den Kerl anzuzeigen, aber sie wollte es sich erst noch überlegen. Mein Gott! Ich hätte sie sofort hinbringen müssen!«
»Man kann keinen Menschen zwingen, Hilfe anzunehmen.«
»Das nicht, aber ich hätte meine Oma da nicht mit reinziehen dürfen. Heute Morgen wollte ich eigentlich mal nachprüfen, was es mit ihrem Ex auf sich hat, aber ich bin nicht dazu gekommen. Und hätte auch gar nicht genügend Angaben gehabt.«
Verzweifelt fährt sie sich durchs Haar. Es kostet sie ungeheure Anstrengung, nicht in Tränen auszubrechen.
»Wie heißt der Mann?« Sjoerd hat bereits das Funkgerät in der Hand.
»Bob. Den Nachnamen weiß ich nicht. Das wird uns also nicht weiterhelfen.«
»Wenn die Kriminaltechniker DNA -Spuren finden, dürfte es kein Problem sein. Vorausgesetzt, er hat sonst noch was auf dem Kerbholz.«
Julia nickt geistesabwesend und geht dann in den Flur.
Ihre Großmutter wird gerade aus dem Haus getragen.
Sie spürt Sjoerds Blick, vermeidet es aber, ihn anzusehen. Dass er in dieser schweren Stunde bei ihr ist, reicht völlig aus und gibt ihr die nötige Kraft. Jeder Versuch, sie zu trösten, jede Äußerung von Mitgefühl wären ihr jetzt zu viel – dann wäre es mit ihrer Beherrschung vorbei, sie würde losheulen und so schnell nicht mehr aufhören.
Mit unbewegter Miene und wie von einem Panzer umgeben, an dem alles abprallt, fährt sie mit Sjoerd zum Revier.
Als sie abends nach Hause kommt, empfindet sie ihre Wohnung so leer wie noch nie. Ihre Großmutter hat sie zwar nur selten besucht – meist fuhr sie zu ihr –, doch die Erkenntnis, dass das nie mehr möglich sein wird, trifft sie wie ein Hammerschlag.
Morf kommt aus dem Garten und streicht ihr um die Beine. Sie nimmt den Kater hoch, der ihr mit seiner rauen Zunge die Hand leckt.
Ihr Blick fällt auf das Foto ihrer Oma im Regal, und als sie den Anrufbeantworter abhört und ihre vertraute Stimme hört, die fragt, ob sie am Abend Lust auf ein gemütliches Essen zu dritt hat, bricht sie zusammen.
30
Nathalie ist auf dem Weg nach Brabant, den Blick starr auf die Landstraße gerichtet. Sie hat keinen Blick für die sommerlich grünen Wiesen, die Felder und die Pferde auf den Weiden.
Angespannt sitzt sie am Steuer und überlegt zum x-ten Mal, worauf sie zu achten hat, damit ihr Vorhaben klappt.
Am Ortsrand von Sint Odilienberg hat sie einen Wagen gestohlen. Wie man eine Autotür innerhalb weniger Sekunden mit dem Schraubenzieher aufbekommt, hat sie von Vincent gelernt, ebenso wie man das Lenkradschloss knackt und den Motor kurzschließt.
»Für den Eigenbedarf keine Autos, die neu über fünfzigtau send Euro kosten«, lautet eine von Vincents Devisen. »Die teu reren haben oft ein GPS -System, sodass man sie per Satellit orten kann. Zum Weiterverkaufen immer, aber dann müssen sie in eine bleiverkleidete Garage; Blei hält jede Strahlung ab.«
Der ehemalige Stall des Anwesens ist mit Blei verkleidet und hat sich schon des Öfteren bewährt.
Im Nachhinein denkt sie, es wäre klüger gewesen, einfach ihre Sachen zu packen und zu verschwinden, statt ihre eigene Entführung vorzutäuschen. Aber sie will nicht mit dem Tod von Emma Vriens in Verbindung gebracht werden. Auf der Treppe war alles so schnell gegangen, als die alte Frau aus dem Gleichgewicht geriet und – letztlich durch Nathalies Zutun – stürzte. Im Grunde bedauert sie es nicht, denn so kann Emma ihrer Enkelin nichts mehr von ihrer Entdeckung sagen.
Als sie leblos am Fuß der Treppe lag, war Nathalie erst versucht, fluchtartig das Haus zu verlassen, aber dadurch wäre sie unweigerlich unter Verdacht geraten. Besser, es sah so aus, als wäre jemand eingedrungen.
Sie rannte in ihr Zimmer, verwüstete es, brachte sich einen Schnitt an der Hand bei und ließ das Blut auf den Teppichboden tropfen.
Sie will nicht länger bleiben als unbedingt nötig und nur ihre persönlichen Dinge holen: Kleider,
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