Am Helllichten Tag
zwitschern, sieht den Fluss träge dahinströmen – nichts hat sich verändert und zugleich alles.
Sie legt das Brötchen auf den Teller, steht wie in Zeitlupe auf. Plötzlich ist ihr so schwindlig, dass sie nach Sjoerds Arm greift, sich regelrecht an ihn klammert.
»Wie ist das passiert?«, flüstert sie.
»Das wissen wir noch nicht. Die Meldung kam erst vor einer knappen halben Stunde rein. Mir war sofort klar, dass das die Adresse deiner Großmutter in Sint Odilienberg ist. Die Kollegen sind bereits dort. Willst du auch hin?«
Keine Frage.
Leichenblass und wie in Trance geht Julia zur Tür. Sjoerd folgt ihr, nimmt ihren Arm und führt sie die Treppe hinab. Am Auto hält er ihr die Beifahrertür auf.
Auf der Fahrt nach Sint Odilienberg sitzt sie stumm neben ihm. Sie lauscht auf ihren Atem. Ein angeborener Reflex, so selbstverständlich, dass man nie darauf achtet, bis einem klar wird, dass es vom einen auf den anderen Moment zu Ende sein kann.
Vor dem Haus ihrer Großmutter steht eine Menschentraube. Neugierige und geschockte Nachbarn, dazwischen Polizisten – aber warum so viele? Julia wundert sich.
Erst als sie mit einem Kollegen gesprochen hat, begreift sie, dass es um mehr geht als um einen Unfall – in einem der Zimmer seien Blutflecke gefunden worden.
»Sieht ganz nach einem Einbruch aus«, sagt Ari, der gerade aus dem Haus kommt. »In dem einen Zimmer herrscht ein Riesenchaos, überall umgeworfene Möbelstücke, so als hätte ein Kampf stattgefunden.« Ein wenig zaudernd wendet er sich an Julia. Für ihn ist es ein Fall unter vielen, für sie hingegen ein persönliches Drama. »Hat deine Großmutter allein gewohnt?«
»Nein.« Die eigene Stimme klingt ihr fremd in den Ohren, irgendwie verzerrt. »Sie hat Zimmer vermietet.«
»Wie viele Leute wohnen bei ihr? Und wer?«
»Nur Nathalie, eine junge Frau mit Baby.« Julia massiert sich die Schläfen, weil sie spürt, dass sich die üblichen Spannungskopfschmerzen ankündigen. »Sie ist auf der Flucht vor ihrem Ex und hat sich bei meiner Oma versteckt. Ist sie im Haus? Sie hat halblange dunkle Locken.«
»Im Haus war keiner«, sagt Ari. »Wenn sie in dem Zimmer wohnt, das verwüstet wurde, wundert mich das nicht. Ich denke, ihr Ex hat sie aufgespürt.«
»Und deine Großmutter hat vermutlich den Lärm gehört, wollte rasch die Treppe runter und ist dabei gestürzt«, ergänzt Sjoerd.
Julia richtet den Blick auf die Haustür. »Ich will sie sehen.«
»Das geht jetzt nicht – die Spurensicherung ist noch drin«, wendet Ari ein, doch Julia lässt sich nicht beirren, steigt über das Absperrband und klingelt.
Ein Kollege in Uniform öffnet, lässt sie aber nicht ins Haus. Obwohl sie nichts lieber möchte, als bei ihrer Großmutter zu sein, zeigt sie sich, wieder ganz Polizistin, einsichtig.
Wenigstens tritt der Kollege ein wenig beiseite, sodass sie einen Blick ins Haus werfen kann. Kaum drei Meter entfernt liegt Emma am Fuß der Treppe, das linke Bein auf den untersten Stufen, das rechte seltsam verdreht und halb unter dem Körper. Ihr Mund ist wie zu einem Schrei geöffnet, die Augen starren leer zur Decke. Ihre Züge drücken maßlose Verwunderung aus.
Die Spurensicherer betreten gerade den Flur.
»Und? Was gefunden?«, fragt Julia sofort.
»Blut. Das geben wir gleich zur Analyse.«
Julia geht an den Männern in weißen Schutzanzügen vorbei zur offenen Hintertür und betrachtet das Schloss. Es ist intakt, wurde nicht aufgebrochen.
Dann tritt sie auf die Schwelle von Nathalies Zimmer.
Entsetzt betrachtet sie das Durcheinander. Nach einem Einbruch sieht es allerdings nicht aus, denn keine Schranktür steht offen, keine Schublade wurde aufgezogen und durchwühlt. Viel eher hat sie den Eindruck, als hätte hier jemand seinem Zorn Luft gemacht. Stühle wurden umgeworfen, Bilder von den Wänden gerissen, die Blumenvase, die auf der Kommode stand, liegt in Scherben in einer Wasserpfütze, daneben sind Robbies zertretene Spielsachen auf dem Boden verstreut.
Der Kinderwagen steht noch da, und als Julia den Schrank öffnet, stellt sie fest, dass auch seine Kleider noch hier sind. Sie liegen, sauber gestapelt, neben Nathalies Sachen. Nathalie muss kopflos geflüchtet sein … Oder aber sie wurde entführt.
Bestürzt blickt Julia auf die Blutflecke auf dem Teppich boden.
»Ich hab das Ganze unterschätzt«, sagt sie leise. »Ich hätte sie beschützen müssen …«
»Julia?«
Sie dreht sich um.
»Du weißt, von wem das Blut ist?«,
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