Am Helllichten Tag
wir herausfinden.«
»Warum?«
»Weil diese Nathalie uns hoffentlich sagen kann, wer Ihre Tochter getötet hat. Aber um sie zu finden, brauchen wir den Nachnamen«, sagt Julia.
»Soweit ich mich erinnere, hat Kristien nie eine Nathalie erwähnt.«
»Vielleicht früher einmal? Vielleicht kannte sie zu Schulzeiten eine Nathalie? Mit wem war Kristien damals befreundet?«
»Viele Freundinnen hatte sie nicht. Im Gymnasium war sie oft mit einem Mädchen namens Dagmar zusammen. Die beiden gingen in die gleiche Klasse und waren mehr oder weniger befreundet. Mehr oder weniger deshalb, weil diese Dagmar ein extrem stilles Mädchen war. Wissen Sie, Kristien wurde in der Grundschule wegen ihrer roten Haare ständig gehänselt, deshalb war sie froh, als sie später Dagmar als Banknachbarin hatte und sich gut mit ihr verstand. Ich glaube, es hat ihr nicht viel ausgemacht, dass Dagmar so in sich gekehrt war.«
»Brachte Kristien das Mädchen nie mit nach Hause?«
»Doch, ab und zu. Sie war sehr wohlerzogen, aber irgendwie seltsam. Manchmal war sie aufgekratzt, fast schon etwas übertrieben, aber meist sagte sie kein Wort zu mir. Ich glaube, sie hatte es zu Hause nicht einfach. Ihre Mutter und ihr Bruder sind bei einem Unfall umgekommen, als sie etwa zehn war, und mit ihrem Vater verstand sie sich nicht sehr gut. Ich fürchte, er hat sie geschlagen, denn sie hatte öfter blaue Flecken. Als ich sie mal darauf ansprach, behauptete sie, sie wäre gestürzt.«
»Und Sie haben nicht nachgehakt, zum Beispiel gefragt, ob sie mit dem Vertrauenslehrer in der Schule über ihre Probleme gesprochen hat?«
»Ich mische mich grundsätzlich nicht in fremde Angelegenheiten ein.«
»Hatten Kristien und Dagmar nach dem Schulabschluss noch Kontakt?«, fragt sie.
Frau Moors schüttelt den Kopf. »Ich glaube nicht. Jedenfalls hat Kristien sie später nie mehr erwähnt. Meine Tochter ist mit der mittleren Reife abgegangen, hat eine Lehre gemacht und sich dann einen anderen Freundeskreis zugelegt, wie das eben so ist.«
»In Kristiens Wohnung haben wir keinerlei Fotos von früher gefunden.«
»Die Alben sind hier. Kristien hat sich nie viel aus Fotos gemacht, auch nicht, als sie noch zu Hause wohnte. Sie hatte sie lose in Schubladen liegen und manchmal sogar als Glasuntersetzer benutzt. Ich konnte das nicht mitansehen und hab irgendwann alle ihre Bilder eingeklebt. Soll ich sie holen?«
»Ja, bitte. Vielleicht ist ja ein Foto von Dagmar dabei.«
»Eher nicht. Dagmar hat sich nur ungern fotografieren lassen. Sie war, wie gesagt, ein wenig seltsam. Aber auf den Klassenfotos müsste sie eigentlich mit drauf sein. Ich geh dann mal …« Sie steht auf und verlässt den Raum.
Julia lässt den Blick durchs Wohnzimmer schweifen. Nirgend wo sieht sie ein Foto von Kristien, aber an der gegenüberliegenden Wand fällt ihr ein helles Viereck auf der Tapete auf. Sie seufzt leise.
Nach wenigen Minuten kommt Frau Moors mit drei Fotoalben unterm Arm wieder herein.
Sie setzt sich aufs Sofa, und Julia nimmt neben ihr Platz.
So schnell wird sie wohl nicht ans Ziel kommen, denn Bianca Moors zeigt ihr zunächst einmal Kristiens Babyfotos, dann Aufnahmen aus dem Kindergarten.
Julia hat wenig Zeit, will die Frau aber nicht drängen, zumal sie merkt, wie wichtig es ihr ist, ein wenig über die Tochter zu reden. Dennoch ist sie froh, als sie endlich bei den Bildern aus der Gymnasialzeit angelangt sind.
Sie haben nun das Klassenfoto aus der Fünften vor sich liegen. Frau Moors zeigt auf Kristien, Julia hingegen überfliegt die übrigen Kindergesichter. Es sind mehrere Mädchen mit dunklen Locken zu sehen, eines davon versteckt sich halb hinter einer Klassenkameradin.
»Ist das hier Dagmar?«
»Ja, scheu wie immer. Sehen Sie doch nur, wie wütend Kristien guckt. Ich weiß noch gut, dass sie sich furchtbar geärgert hat, weil sie und Dagmar nicht nebeneinander stehen durften. Der Fotograf hatte nämlich seine eigenen Vorstellungen: dunkel neben blond, die Großen nach hinten, solche Sachen. Ist das nun das Mädchen, das Sie suchen?«
»Ich bin mir nicht sicher, weil sie auf dem Bild noch sehr jung ist. Könnte ich vielleicht mal ein Klassenfoto sehen, auf dem sie so etwa sechzehn sind?«
Bianca Moors nimmt das letzte Album zur Hand, blättert darin und reicht es dann Julia. »Dagmar steht ganz rechts.«
Das Foto ist besser als das vorige und hat ein größeres Format, sodass Julia das Mädchen auf Anhieb erkennt; es ist tatsächlich Nathalie, und sie hat
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