Am Horizont die Freiheit
schließlich kam der gefürchtete Augenblick. Anna sagte zu ihm: »Die Nacht geht zu Ende. Ihr müsst fort.«
Er schaute zum Himmel und stellte fest, dass die Dunkelheit weniger undurchdringlich war. Es stimmte. Er blickte zur Straße hinaus, sah, dass alles schwarz war, und dachte, dass dies seine Zukunft fern von Anna sein würde. Trotzdem wusste er, dass er gehen musste. Auf keinen Fall durfte er zulassen, dass man ihn entdeckte und dass sie etwas Schlimmes erlitte.
Nach einem endlos erscheinenden Kuss trat er zum Fenster und ergriff das Seil. Vorsichtig ließ er sich hinab, bis seine Stiefel auf den Boden stießen. Tastend suchte er nach den Mauern der Gasse. Nun stellte er fest, dass er sie schon sehen konnte. Die Hähne krähten, und von den Glockentürmen läutete man die Prim-Stunde ein. Er musste unverzüglich zur
Santa Eulalia
zurückkehren, doch zuvor wollte er sich von dem Buchhändler verabschieden. Er musste seinem Freund anvertrauen, was in dieser Nacht geschehen war. Es war ein grauer Morgen, und allmählich ließ sein verschwommenes Licht die Straßen, Gebäude, Türen und Fenster hervortreten.
Er brauchte nicht lange zu warten, bis er Bewegungen im Innern der Buchhandlung hörte, und ungeduldig klopfte er an die Tür. Nach einer Weile öffnete Antonello ein Fensterchen im oberen Teil des Haustors. Er blickte beunruhigt hinaus, doch als er ihn erkannte, machte er das Tor ganz auf und ließ ihn hinein. Wenn man morgens an die Tür klopfte, handelte es sich meistens nicht um gute Neuigkeiten, und hinter ihm stand ein halbes Dutzend seiner Gesellen und Lehrlinge, die bewaffnet waren. Er schickte sie zurück und fragte Joan: »Was gibt es?«
»Ich habe die Nacht mit ihr verbracht.«
Ein breites Lächeln zeichnete sich im Gesicht des Buchhändlers ab. Er sagte: »Komm hoch ins Esszimmer. Wir frühstücken, während du es mir erzählst.«
Doch als er alles erzählt hatte, machte der Buchhändler ein finsteres Gesicht, was gar nicht zu ihm passte.
»Du hast also die Nacht mit der Frau verbracht, die du liebst, und ihr habt nichts getan?«, fuhr er ihn an.
»Wir haben uns geküsst und umarmt«, verteidigte sich Joan überrascht.
»Um Himmels willen, Junge, das ist gar nichts!«, explodierte Antonello. »Wie viel musst du noch lernen! Ihr beide habt euer Leben aufs Spiel gesetzt! Glaubst du etwa, wenn euch der Ehemann überrascht hätte, würde er sich weismachen lassen, dass ihr euch nur ein bisschen geküsst und umarmt habt? Wenn du schon dein Leben wagst, musst du auch bis zum Ende gehen! Jetzt überlässt du es dem Schicksal, wie es euch ergehen wird. Vielleicht habt ihr keine weitere Gelegenheit. Du hättest die richtigen Argumente finden und sie mit Gründen überzeugen müssen, die ihr zu Herzen gingen.«
»Aber ich habe ihr versprochen …«
»Solche Versprechen sind nichts wert, Joan!«, widersprach der Neapolitaner. »Sie sind nichts wert! Sie sind gegen den Willen Gottes, denn er spornt euch an, euch zu lieben. Sie sind eine Sünde gegen die Liebe.«
»Das versteht Ihr nicht, Antonello. Sie ist eine anständige Frau.«
»Nein!«, rief der Buchhändler und hieb mit der Faust auf den Tisch. »Sie ist keine anständige Frau.«
Joan war vor Bestürzung wie gelähmt. Dann reagierte er, indem er aufsprang und den Degengriff packte.
»Nehmt zurück, was Ihr gesagt habt.«
»Eine ehrbare Frau ist die, die sich dem Mann hingibt, den sie liebt«, erklärte Antonello weiter, ohne sich im Geringsten um ihn zu kümmern. »Nicht die, die sich aus Zweckmäßigkeit anbietet, selbst wenn es aus Familieninteressen geschieht. Und es ist keine Entschuldigung, dass Königinnen und Prinzessinnen gerade das tun. Anständig und ehrbar ist, dass man sich vollständig dem hingibt, den man liebt …«
Ihn unterbrach der dringende Ruf der Glocken, die Alarm schlugen, und beinahe unverzüglich hörte man Rufe auf der Straße. Doch die Worte des Buchhändlers klangen noch in Joans Ohren nach. Er stand in drohender Haltung und mit halbgezogenem Degen da, weil er dachte, dass sein Freund die Ehre seiner Dame beleidigt hatte.
Ohne sich um die anmaßende Pose des Jungen zu kümmern, öffnete Antonello die Fenster des Stockwerks und sah auf die Straße hinaus.
»Was gibt es?«, rief er zu einem seiner Nachbarn hinüber, der heftig in einer Gruppe diskutierte.
»Die Anhänger der Anjous kontrollieren die Stadttore. Sie plündern das Capuano-Schloss und den Palast des Fürsten von Altamura!«, antwortete er.
Weitere Kostenlose Bücher