Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Horizont die Freiheit

Am Horizont die Freiheit

Titel: Am Horizont die Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Molist
Vom Netzwerk:
zuzuwerfen, und ich bin die ganze Nacht bei Euch, bis kurz vor dem Morgen.«
    Anna starrte ihn an, ohne aus dem Staunen herauszukommen. Dann wanderten ihre Augen über die Rücken der Bücher, die in den Regalen des Arbeitszimmers standen. Schließlich musterte sie ihn eindringlich und legte die Stirn in Falten.
    »Ihr seid verrückt, Joan!«, rief sie endlich heftig. Sie klang empört. »Vollständig verrückt.«
    »Aber …!«
    »Ich lasse kein Aber gelten«, unterbrach ihn Anna. Joan sah, dass sich ihre Wangen gerötet hatten. »Ihr wollt Euer Leben, mein Leben und das Wohlergehen meiner Familie in Gefahr bringen. Ich nehme jetzt schon ein zu großes Wagnis auf mich, weil ich hergekommen bin!«
    »Mein Leben bedeutet mir wenig«, klagte er. »Ohne Euch ist es erbärmlich. Ich leide, wenn ich Euch von weitem sehe. Ich muss Euch bei mir haben und Euch umarmen. Außerdem würde ich eher mein Leben hingeben, als dass ich Euch im Geringsten schadete.«
    »Nun, dann umarmt mich und verlangt nicht von mir, was ich Euch nicht geben kann«, flehte sie ihn an.
    Das tat Joan. Diese Augenblicke waren zu kostbar, um sie mit Wortwechseln zu vergeuden. Doch beim Abschied sagte sie:
    »Ihr müsst das verstehen, Joan. Ich liebe Euch, weil ich nicht anders kann. Wenn ich es könnte, würde ich damit aufhören, und ich wäre glücklich mit meinem Mann. Doch obwohl ich ihn nicht liebe, habe ich ihm gegenüber Verpflichtungen. Niemals werde ich ihn verraten. Selbst wenn wir uns jede Nacht sähen, würde ich Euch nie meinen Körper hingeben.«
    »Eure Liebe genügt mir«, antwortete er. »Aber ich muss Euch länger sehen.«
    Er wusste, dass dies nicht ganz der Wahrheit entsprach. Er genoss Annas Liebe, doch er verlangte jeden Tag mehr nach ihr. Sie gingen nicht über Küsse und Umarmungen hinaus, aber er stellte sich alles Übrige vor. Er sagte sich immer wieder, es sei schon ein großes Glück, dass sie ihn liebe, dass sie ihn heimlich treffe, er dürfe das Schicksal nicht herausfordern.
    Als er Antonello darauf ansprach, lächelte dieser und sagte: »Lieber Freund, du musst noch viel über die Liebe lernen. Wenn eine Dame nein sagt, meint sie vielleicht. Wenn sie vielleicht sagt, meint sie ja. Und wenn sie von vornherein ja sagt, ist sie keine Dame.«
    »Anna ist nicht wie die anderen!«, unterbrach ihn Joan ärgerlich.
    Der Buchhändler lachte.
    Joan schrieb den Satz Antonellos in sein Buch und setzte dann hinzu: »Ob das stimmt? Meine Dame bricht mir das Herz, und dieser zynische Teufel peinigt mich. Ich weiß nicht, wie lange ich ihn noch ertragen kann. Doch die Ängste meiner Liebsten und die Spottreden dieses eingebildeten Kerls, der sich als Kenner der Liebe aufspielt, werden mich nicht zurückhalten. Ich gebe nicht nach, Anna, um unserer Liebe willen, zum Wohl von uns beiden.«

90
    W olken bedeckten den Himmel Neapels und verbargen die Sterne. In dieser kalten Nacht des 20 . Februar 1495 war die Dunkelheit allumfassend. Das tiefe Schweigen der Stadt wurde nur gestört, wenn brünstige Kater einander herausforderten, wobei sie sich wie arme Seelen durchdringend anknurrten. Die Straßen waren menschenleer, und wenn sich jemand auf ihnen herumtrieb, verbarg ihn die Finsternis wie ein schwarzes Leichentuch. Joan wartete stundenlang in der Gasse. Trotz seines dicken Mantels zitterte er vor Kälte, und er fragte sich ängstlich, ob Anna es sich anders überlegt hatte. Endlich, kurz vor Mitternacht, erblickte er ein schwaches Licht in den Jalousien des zweiten Stocks, das sofort verschwand. Sein Herz krampfte sich zusammen, und er erstarrte. Dies war das von ihm erhoffte Signal. Er stellte sich unter die Jalousien, und kurz danach merkte er, dass ihn etwas berührte. Es war ein Seil. Er zog daran, um sich zu vergewissern, dass es gut festgebunden war. Dann kletterte er hinauf und beglückwünschte sich, dass er Handschuhe anhatte. Er sagte sich, dass sie sich später nicht mehr benutzen ließen, aber das war ihm gleich. Bei dieser Kälte hätte er mit bloßen Händen nicht hochklettern können.
     
     
    Einen Monat zuvor hatte Papst Alexander  VI . eine Vereinbarung mit dem französischen König abgeschlossen, als dessen Heer schon vor den Toren Roms stand. So vermied er, abgesetzt zu werden, wie es Kardinal Della Rovere erreichen wollte. Der Pontifex maximus ersuchte die in Rom stationierten neapolitanischen Truppen, nach Hause zurückzukehren, ohne den Franzosen entgegenzutreten. Er aber, der ein vorsichtiger Mann war, schloss

Weitere Kostenlose Bücher