Am Horizont die Freiheit
oder neigte sich nach vorn oder hinten. Oder er hatte einen deutlicheren Strich, oder die Tinte lagerte sich an einem bestimmten Punkt in größerer Menge ab. Bald schrieb er den Buchstaben Gefühle, Charakter und Gemütszustände zu. Sie wirkten zufrieden, traurig oder missmutig. Die Buchstaben hatten ihr eigenes Leben, gingen gegenseitige Beziehungen ein und bekamen eine unterschiedliche Persönlichkeit. Der hier verschwor sich mit einem anderen gegen einen weiter entfernten; der folgende war wütend; der vierte verbarg etwas; der fünfte ängstigte sich; ein anderer lachte, und so war es bei allen und jedem einzelnen Buchstaben des Textes. Es war eine fremde und wunderbare, aber auch eigentümliche Welt, und Joan fragte sich, ob noch jemand diese Sprache der Buchstaben sehen würde.
Vielleicht war es nur eine Frucht seiner Phantasie, sagte er sich schließlich. Er deutete die Stimmung der Buchstaben, weil man ihm verbot, ihre wahre Bedeutung zu kennen, diejenige, die die wunderbare Verbindung zwischen der Person, die den Text geschrieben hatte, und der Person, die ihn las, herstellte.
Das Leben im Kloster wurde in diesen Tagen strenger. Die Gebete nahmen zu. Man bat für die Kämpfer und für den Sieg, und die Kirche blieb länger geöffnet, damit die Gläubigen für das Wohl ihrer Angehörigen im Heer zu Gott flehen konnten. Doch am schwersten fielen den Brüdern die Fastenzeiten, die die Mönche einhielten. An vielen Abenden aßen sie gar nicht. Die Gebete und das Opfer waren der Beitrag der Mönche zu den Kriegsanstrengungen, waren ihre Art zu kämpfen. Dank ihres Opfers und ihrer Selbstverleugnung würde der Herrgott den Truppen der Stadt größeren Beistand gewähren. Glücklicherweise hatte Bruder Jaume immer ein liebevolles Lächeln und ein paar Essensvorräte für die zwei Brüder und den Novizen bereit.
Joan behielt weiterhin Bruder Nicolau im Auge. Nach der nächtlichen Episode hatte er Mitleid mit ihm, doch die Abneigung, die Abscheu, die er in ihm erweckte, war sogar noch größer geworden. Als er feststellte, dass er ihn nach wie vor anlächelte, wurde ihm klar, dass die Bußübungen des Mönchs keine günstige Antwort des Himmels erhalten hatten und dass er immer noch eine Gefahr für seinen Bruder darstellte. Dieser Unglückliche tat ihm sehr leid, doch der Gedanke, dass Gabriels Seelenheil bedroht war, schien ihm unerträglich.
Allerdings vereinte sich diese Angst mit einer anders gearteten Unruhe. Ständig malten seine Finger unsichtbare Zeichen auf eine Klosterwand oder den Essenstisch oder auf eine andere Fläche. Es waren die Schnörkel einer Silbe oder eines Wortes, wie er sie am Morgen mit Tinte gezeichnet hatte. Und wenn der Novize in der Nähe war, konnte er sich nicht beherrschen und fragte ihn, was das bedeutete. Er wollte die Antwort aus seinem Geist verbannen, doch je mehr er es versuchte, desto fester prägten sich ihm die Wörter und deren Klang ein.
27
E s waren erwartungsvolle Tage. Alle lauschten gespannt den Neuigkeiten vom Heer, die sich von Tür zu Tür und von Gruppe zu Gruppe verbreiteten. Man habe eine Belohnung von fünfhundert Pfund – ein riesiges Vermögen – für den Kopf des
remensa
-Führers ausgesetzt; die Truppen hätten schon Positionen bezogen, um Granollers anzugreifen … Wer Briefe von seinen Angehörigen erhielt, die mit einigen Tagen Verspätung eintrafen, beeilte sich, die Neuigkeiten den anderen mitzuteilen, die sie nicht kannten. Die Brunnen waren Treffpunkte, und wenn Joan den Krug füllte, erfuhr er auch die Gerüchte. Er erzählte sie unverzüglich der Hausherrin weiter, die begierig darauf wartete, etwas über das Schicksal ihrer Hausgenossen zu erfahren. Danach unterrichtete sie den Ehemann und die Nachbarinnen.
Wenn man für die Corrós arbeitete, bedeutete dies, dass man zur Familie gehörte. Die Stellung jedes Einzelnen war ganz eindeutig: Die Corrós waren die Herrschaften, und die Übrigen gehorchten, doch die Herrin nahm alle unter ihre Fittiche. Joan schätzte Señora Corró hoch. Darum besuchte er in diesen Tagen mehrere Brunnen, um Nachrichten für seine Herrin zu sammeln.
Als er an einem ungewohnten Ort in der Schlange wartete, sah er das Mädchen aus dem Juwelierladen kommen. Es war das erste Mal, dass sie fern vom Laden ihrer Familie zusammentrafen. Er erstarrte und sah Überraschung in ihren Augen, bevor sie den Blick abwandte. Er wusste nicht, was er tun sollte, sehnte sich danach, ihr etwas zu sagen, doch ihn
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