Am Horizont die Freiheit
verstehst mich nicht?«, fragte Joan nun in höflichem Ton. »Aber wo du doch meine Sprache sprichst.«
»Ich spreche und verstehe viele Sprachen, Sohn.« Er lächelte ihm zu. »Aber nicht die des Schreiens.«
»Nun gut. Ich habe gesagt, der Herr will, dass du mir das Schreiben beibringst«, wiederholte Joan in ebenso sanftem Ton, wie ihn der Alte benutzt hatte.
»Ach! Also der Herr will das. Und was willst du?«
Joan dachte darüber nach. Natürlich wollte er gern schreiben, doch zuvor hätte er gern lesen gelernt.
»Ich will lesen und schreiben lernen.«
»Nun, ich kann dir nur bei der Hälfte helfen. Mosén Corró hat mich gebeten, dass ich dir nicht das Lesen beibringe, und ich glaube, das weißt du auch.«
Der Junge runzelte missmutig die Stirn. Der Maure wusste mehr, als er gedacht hatte.
»Mach dir trotzdem keine Sorgen. Sobald du schreiben kannst, ist das Lesen sehr einfach«, erklärte der Mann weiter. »Aber denk daran, wenn man etwas verspricht, muss man es halten.«
Nun sagte sich Joan, dass dieser Mann entschieden zu viel wusste.
»Also, du bittest mich, dass ich dich unterrichte …« Abdalá ließ seine Erklärung einige Zeit unvollendet. »Und du möchtest das. Richtig?«
Der Junge nickte zustimmend.
»Nun, wenn ich dich unterrichten soll, musst du zwei Bedingungen erfüllen.«
»Ich habe keine Bedingung zu erfüllen. Das sind Anweisungen des Herrn, und du bist ein Sklave.«
Der Alte lächelte, bevor er antwortete.
»Mosén Corrós Anweisungen waren für dich. Nicht für mich. Und wenn du meine Bedingungen nicht einhältst, kannst du gleich in den Laden hinuntergehen und sagen, dass ich dich nicht unterrichte.«
Joan konnte nicht begreifen, wie sich ein Sklave herausnehmen durfte, derart dreist aufzutreten. Doch dem Herrn zu erklären, dass ihn Abdalá nicht unterrichten wolle, wäre das Letzte, was er tun würde. Alle wussten, wie sehr Mosén Corró den Mauren achtete.
»Was für Bedingungen sind das?«
»Die erste ist, dass du mich ›Meister‹ nennst und mich mit ›Ihr‹ anredest.«
Das hatte Joan nicht erwartet. Sollte er einen maurischen Sklaven als »Meister« anreden? Was würde Felip dazu sagen? Alle würden ihn auslachen.
»Das kann ich nicht.«
»Das tut mir leid. Du kannst gleich wieder in den Laden hinuntergehen.«
»Warte einen Augenblick! Das kann ich nicht tun, weil mich Felip und die anderen auslachen würden. Vielleicht würden sie mich sogar verprügeln.«
»Gut. Ich verstehe. Nun, dann nenne mich ›Meister‹, wenn du hier oben mit mir allein bist. Unten in der Werkstatt kannst du mich Abdalá nennen.«
Der Junge atmete erleichtert auf.
»Was ist die andere Bedingung?«, wollte er dann wissen.
»Ich habe dich beobachtet. Du hasst mich nicht auf dieselbe Weise, wie es Felip tut. Ich will wissen, woher dein Groll auf mich kommt, wo ich dir nie etwas Böses getan habe.«
Joan starrte den Mann an und presste die Kiefer zusammen. Er beschwor seine schmerzlichsten Erinnerungen herauf. Er wollte es dem Mauren nicht erzählen. Nicht einem Mauren. Sie waren der Grund für das Unglück seiner Familie.
»Sieh mir in die Augen«, sagte der Alte sanft.
Joan gehorchte, wenn auch widerwillig. Abdalá hatte blaue Augen, die mit den Jahren etwas verblasst, aber immer noch schön und mild waren.
»Setz dich auf den Schemel dort und erzähle es mir«, drängte er.
Als er sich setzte, merkte er, wie etwas in seinem Innern zerbrach, und auf einmal sprudelten die Worte hervor, gleichzeitig mit den Tränen. Die Wolken und das blaue Meer, das Läuten der Glocke in der Einsiedelei, der Blick seines Vaters, die Flucht, der donnernde Schuss, der Tod, der Verlust der Mutter, der Schwestern, Elisendas … Joan erlebte die schmerzlichen Szenen wieder. Der Mann wartete, während sich der Junge das Gesicht mit den Händen bedeckte, als er seinen Bericht beendet hatte. Sie waren tränenfeucht, und er schluchzte. Er fühlte sich beschämt. Nie hatte er die Ereignisse auf diese Weise erzählt und dabei so schlimm gelitten.
»Das tut mir sehr leid, Joan«, sagte der Mann. »Das tut mir sehr leid.«
Der Junge spürte, dass er die Hand auf seine Schulter gelegt hatte. Sie war warm, trotz der Kälte in diesem Raum. Es tröstete ihn.
»Aber glaube mir. Das waren keine Sarazenen, die dein Dorf angegriffen haben. Allah soll mich strafen, wenn ich mich irre.«
»Was?« Joan richtete sich mit einem Sprung auf. Das stimmte mit dem überein, was der Mercedariermönch gesagt hatte.
Weitere Kostenlose Bücher