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Am Horizont die Freiheit

Am Horizont die Freiheit

Titel: Am Horizont die Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Molist
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zu laufen.«
    Joan staunte, wie geschickt der Alte sowohl mit der Feder in der Rechten als auch mit dem Messer in der Linken arbeitete. Dieses wurde benutzt, um das Papier an seinem Platz festzuhalten, ohne es mit dem Fett an der Hand zu beschmutzen, doch es wurde auch eingesetzt, wenn zu viel Tinte herabgetropft war oder wenn man einen Fehler gemacht hatte. Im ersten Fall nahm es geschickt das Überflüssige auf. Im zweiten schabte man behutsam das Papier ab, bevor die Tinte eintrocknete. Danach säuberte man die Stelle mit Talk und überschrieb sie mit dem richtigen Buchstaben.
    Das faszinierte Joan. Er erinnerte sich, wie sehr ihn das geöffnete Buch vor dem Laden der Corrós beeindruckt hatte, als er nach Barcelona kam. Nun hatte er die Gelegenheit, vielleicht eines Tages etwas so Prächtiges wie dieses Buch zu schaffen.
    Die Arbeit, das Papier vor dem Schreiben zu linieren, war mühsam, und das noch mehr, wenn man sie in einem bereits gebundenen Buch ausführte. Gerade das war die Hauptaufgabe, die Joan zu erledigen hatte, denn man musste kein geschickter Schönschreiber sein, und der Meister brauchte hierfür nicht seine Zeit zu verschwenden.
    Trotzdem entschädigte er den Jungen, indem er ihm beibrachte, wie man Buchstaben zeichnete. Das tat Joan auf weggeworfenen Papier- oder Pergamentstreifen, auf denen er zuvor nach Anweisung des Meisters korrekte Linien gezogen hatte. Es ließ sich nicht vermeiden, dass Joan beim Schreiben den Namen jedes Buchstabens erfuhr, und er ahnte, dass dies der erste Schritt war, um lesen zu lernen.
    »Meister Abdalá, warum will der Herr nicht, dass ich lesen lerne?«, fragte er eines Tages.
    »Er hat seine Gründe, und du tust allen einen Gefallen, wenn du dein Versprechen hältst.«
    »Aber was nützt es mir, dass ich Bogen binden und ein Buch mit schönen Deckeln herstellen kann und in der Lage bin, abzuschreiben, was in einem anderen Buch steht, wenn ich nicht verstehe, was es bedeutet?«
    »Du bist sehr jung. Zum Lesen bleibt dir noch genug Zeit. Jetzt musst du die Schönheit der Schreibkunst, ihre Harmonie, den Geruch der Tinte und die Berührung des Papiers genießen. Darauf sollst du dich konzentrieren. Das ist dir erlaubt. Das Aussehen eines Buches hat ebenso wie sein Inhalt einen eigenen Wert, und man muss verstehen, beides zu schätzen. Bücher sind wie Menschen, sie haben Leib und Seele. Beide sind wichtig. Ich habe viele Bücher gelesen, und an vielen hatte ich größere Freude wegen des Aussehens, des Duftes und der Textur als wegen des Inhalts, den sie erzählten.«
    »Aber ich will Buchhändler werden, und ein richtiger Buchhändler muss den Inhalt seiner Bücher kennen und den Menschen finden, zu dem sie passen. So wie es Mosén Bartomeu tut.«
    Der Alte lächelte und strich sich über den Bart.
    »Ja. Buch und Leser«, murmelte er. »Die Freude des Lesens bedeutet Harmonie zwischen beiden. Und wer den Leser für das Buch und das Buch für den Leser entdecken kann, ist mehr als ein Buchhändler, nämlich ein Zauberer. Er ist ein Alchemist und schafft den Schmelztiegel, der zwei Dinge zu einem einzigen vereint. Und das Ergebnis unterscheidet sich von den vorherigen Stoffen, weil das geeignete Buch endgültige Wandlungen im Leser herbeiführen kann …«
    »Das verstehe ich nicht«, sagte Joan.
    Der Meister sprach gar nicht mehr zu dem Jungen, sondern hatte sich in seiner eigenen Welt verloren.
    »Mach dir keine Sorgen«, schloss er ab. »Vorläufig musst du tun, was man von dir verlangt. Du wirst noch genug Zeit haben, um Bücher und Menschen zusammenzubringen.«
    Diese Argumente überzeugten Joan nicht, doch er widmete sich mit ganzem Eifer der Aufgabe, die Kalligraphie so zu beherrschen, wie es der Meister von ihm verlangte. Er bemühte sich, mit seiner Feder jene Buchstaben zu zeichnen, von denen er nur den Namen wusste. Sie bildeten Wörter, die er nicht kannte, und diese vereinigten sich zu Sätzen, die er nicht entschlüsseln konnte. Nach und nach lernte er, sein Handgelenk zu beherrschen, bis der Augenblick kam, in dem ihm der Meister erlaubte, mit dem Abschreiben einiger Texte zu beginnen. Was bedeuteten die Worte, die er aufs Papier brachte? Wovon handelte wohl dieses Buch? Die Wissbegierde brachte ihn um.
    So vollkommen auch die Kalligraphie sein mochte, seine eigene ebenso wie die des Originaltextes, nie waren die Buchstaben ganz gleich. Einer stützte sich leicht auf den Nachbarbuchstaben und entfernte sich vom folgenden, ein anderer war etwas höher

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