Am Horizont die Freiheit
Menschen sehr gut kennen. Ich weiß nicht, ob du dafür auf dem richtigen Weg bist. Aber beim Latein bist du es. Bald weißt du alles, was ich weiß. Dann musst du dir einen anderen Meister suchen, Lehrling.«
An diesem Tag zeigte sich Anna mitteilsamer als je zuvor. Sie wollte ihm etwas sagen. Sie legte die Hand aufs Herz und an den Mund, dann zeigte sie heimlich auf den Krug. Sie würde hinauskommen! Joans Herz klopfte schneller, und er rannte zum Brunnen. Von weitem beobachtete er, wie sie den Krug füllte. Er wusste, dass sie ihn gesehen hatte, und lief in die Gasse, um dort auf sie zu warten.
»Ich habe nicht viel Zeit«, sagte Anna. Ihre Augen waren gerötet. Sie hatte geweint. »Ich wollte Euch nur sagen, dass ich Euch liebe und immer weiter lieben werde.«
»Ich auch, von ganzem Herzen«, antwortete er, von ihrer Heftigkeit überrascht. »Was habt Ihr denn?«
»Nichts. Ich wollte Euch nur sehen, damit Ihr es wisst.«
Joan machte sich Sorgen. Da gab es etwas, was sie ihm nicht sagte. Anna war schon sechzehn Jahre alt. Vielleicht hatte ihr Vater sie verlobt, und das hier war ein Abschied. Er fragte sie danach.
Sie schüttelte den Kopf. Sie lächelte nicht mehr, und es sah so aus, als wollte sie gleich wieder losweinen. Sie stellte den Krug auf den Boden und umarmte ihn. Joan spürte ihren warmen und zärtlichen Körper, und ihre runden Brüste drückten sich an ihn. Er hielt den Atem an und erwiderte die Umarmung. Er sagte sich, dass Anna sehr viel wagte, doch er suchte ihre Lippen, und sie küssten sich. Joan würde sich immer an diesen Kuss erinnern, der zwar unbeholfen, aber so innig war, dass er ihn alles ringsum vergessen ließ. Dann drückte sie ihn behutsam von sich und gab ihm einen zusammengefalteten Zettel.
»Leb wohl«, sagte sie, während sie den Krug nahm. »Ich muss gehen.« Dann rannte sie davon.
Joan blieb verwirrt und beunruhigt zurück. Ungeduldig faltete er den Zettel auseinander. Sie schrieb nur, dass sie ihn liebe und immer lieben werde. Es wirkte wie ein Abschied.
Was war mit Anna geschehen? Joan lief zur Calle Argentería und beobachtete sie von weitem, bis sie den Laden aufräumten und die Haustüren abschlossen.
In dieser Nacht konnte Joan kaum schlafen. Er sah Anna in den Armen eines anderen, und als sich dieser umdrehte, war es Felip, der ihn bösartig angrinste.
Am nächsten Morgen fühlte er sich völlig erschlagen. Bei der Messe, die zur Terz zelebriert wurde, betete er gemeinsam mit den Mönchen mehr als je zuvor. Er flehte darum, dass seine Liebe zu Anna eines Tages möglich sein würde, dass man seine Unschuld bei der Sache mit dem Gold beweisen könnte, und er betete für seine Mutter und Schwester.
Als er die Calle Argentería betrat, bemerkte er, dass im Haus der Roigs etwas Sonderbares geschehen war. Er lief hin und sah, dass sie den Laden nicht aufgemacht hatten und das Haus verschlossen war. Was ging da vor sich? Joan fragte die Nachbarn, und einer meinte, Geräusche in der Nacht gehört zu haben. Doch es war ja Winter, und die Häuser waren sorgfältig geschlossen.
»Wir haben geklopft, und sie antworten nicht«, erklärte ein Silberschmied, der seinen Laden neben dem der Roigs hatte.
Joan hämmerte an die Tür, ohne dass man drinnen das geringste Geräusch hörte.
»Wie kann ich hineinkommen?«, wollte er wissen. »Vielleicht sind sie krank oder verletzt und brauchen Hilfe.«
»Ich glaube nicht, dass es das ist«, sagte eine Nachbarin.
»Warum? Was wissen Sie?«, fragte Joan.
»Nichts. Ich weiß nichts«, entgegnete sie. »Wir haben einen gemeinsamen Hinterhof, und vielleicht kannst du von dort aus ein Fenster ihres Hauses erreichen. Mein Mann hat eine Leiter. Wir gehören zur Zunft und helfen gerne, wenn wir können.«
»Bist du etwa ein Familiar der Inquisition?«, fragte der Ehemann argwöhnisch.
Joan versicherte ihm, das dies nicht der Fall sei, und der Silberschmied gab ihm die Leiter. Er stieg zu einem Fenster hoch, dessen Flügel nachgaben, als er dagegendrückte.
Das Zimmer konnte tatsächlich das von Anna sein. Aber sie war nicht da. Dann lief er durchs Haus und riss mehrere Fenster auf, damit Licht hereinkommen konnte. Doch er fand niemanden. Alle Anzeichen sprachen für eine überstürzte Flucht. Die Familie hatte offenbar mitgenommen, was sie konnte. Als er zur Ladentür kam, stellte er fest, dass sie abgeschlossen war, und in diesem Augenblick wurde ihm vollständig bewusst, dass sie fort waren.
»Es wundert mich nicht,
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