Am Horizont die Freiheit
Der wahre Gott ist barmherzig, und sie sind es nicht. Du bist ein sehr aufgeweckter Junge, auch wenn du nicht über das Wesen Gottes urteilen kannst. Täusche dich nicht. Der Mensch hat einen freien Willen, und seine Werke haben oft nichts mit Gott zu tun.«
»Was meint ihr mit freiem Willen?«
»Das ist die Fähigkeit des Menschen, selbst zu entscheiden. Er ist als Einziger für seine Taten verantwortlich, und dafür wird er eines Tages Rechenschaft vor dem Herrn ablegen. Diese Freiheit ist der Grund, dass wir während unseres Aufenthalts auf Erden uns den Himmel oder die Hölle verdienen.«
Joan dachte nach. Er erkannte, dass die Worte Bruder Antonis einen Sinn hatten. Noch tat ihm die kräftige Ohrfeige weh, die ihm die knochige Hand des Mönchs versetzt hatte, und als er seine Wange berührte, merkte er, dass sie glühte.
»Aber warum ist das alles mir geschehen?«, beklagte er sich. »Warum meinen Eltern und den Menschen, die mir nahe sind?«
»Es gibt gewiss einen Grund«, sagte der Subprior. »Der Herr kennt ihn.«
»Oder auch nicht«, entgegnete Joan mit wiederaufflammender Wut.
Mit einem Stoß befreite er sich von dem Mann. Er verließ den Kapitelsaal und rannte eilig zu seiner Zelle. Dort nahm er sowohl das Geld, das er gespart hatte, als auch die noch übrig gebliebenen Korallenstücke und lief auf die Straße.
43
J oan lief über die Rambla, um den
Peu de la Creu
genannten Weg zu erreichen. Dort, am Ende des Pfades, halb zwischen Bäumen verborgen, wo der Weg vor ein paar Büschen endete, stand immer noch dieses verfallene Haus. Der Junge ging langsamer und keuchte. Der Himmel war bleigrau. Es sah nach Gewitter aus, und er war nervös. Doch er durfte keine Angst haben, sagte er sich. Er würde bis zum Ende durchhalten.
Aus dem Schornstein stieg eine Rauchsäule, doch als er klopfte, erhielt er keine Antwort. Vielleicht war die Hexe daran gewöhnt, dass die Jungen an ihre Tür pochten und schnell davonliefen. Doch er gab nicht auf.
»Wer ist da?«, ertönte nach einer Weile eine Stimme.
»Joan Serra.«
Hierauf trat Stille ein. Dann hörte er: »Ich kenne dich nicht. Geh weg. Ich habe zu tun.«
»Ich kann nicht fort! Ich brauche Euch.«
Er wartete, doch er bekam keine Antwort. Offenbar hielt die Frau das Gespräch für beendet. Der Wind wurde stärker, und die ersten Regentropfen fielen. Joan wickelte sich in seinen Mantel. Nach einer Weile klopfte er wieder an die Tür, bis dieselbe Stimme fragte: »Wer ist das jetzt?«
»Ich bin Joan.«
»Habe ich dir nicht gesagt, dass du gehen sollst?«
»Und ich habe gesagt, dass ich Euch brauche. Macht mir bitte auf.«
»Ich habe zu tun.«
»Ich gehe nicht, bis Ihr mir aufmacht.«
Wieder trat Stille ein. Dann war ein unwilliges Knurren zu hören. Der Riegel wurde zurückgeschoben. Eine ungefähr vierzigjährige, verwahrlost aussehende Frau mit zerzaustem grauem Haar öffnete die Tür. Sie hatte kein Glasauge, ihre eigenen grünen Augen huschten hin und her und beobachteten ihn. Sie war keineswegs blind.
»Ich brauche Euch«, wiederholte er.
»Wofür?«, erkundigte sie sich abweisend.
»Ich brauche Euch, weil Ihr eine Hexe seid, und mir kann nur eine Hexe helfen.«
»Ich eine Hexe? Wer hat dir das gesagt?«
»Das sagen alle.«
»Nun, das ist nicht wahr. Manche lügen aus Bosheit, und die anderen irren sich. Ich kenne nur ein paar Heilmittel, und ich versuche, den Menschen zu helfen.«
»Es heißt, dass Ihr davon lebt. Ich bringe Geld und Korallen mit, um Euch zu bezahlen.«
Die Frau dachte nach, und dann antwortete sie: »Davon lebe ich, und wenn man mich weiter eine Hexe nennt, werde ich auch daran sterben. Bist du etwa ein Familiar der Inquisition?«
»Nein, das bin ich nicht.«
»Schwöre es bei deinem Seelenheil!«
»Ich schwöre es.«
Die Hexe schien Vertrauen zu fassen. Sie trat ein paar Schritte über die Türschwelle des Hauses und betrachtete ihn sorgfältig im grauen Abendlicht. Sie sah die vom Weinen geröteten und umschatteten Augen, und sie erkannte, dass ihn tiefer Kummer peinigte. Sie nahm seine Hände in ihre und bewegte die Lider nach unten, bis die Augen beinahe ganz geschlossen waren. Joan spürte die knochigen, aber warmen Hände und betrachtete sie furchtsam. Bald liefen ein paar Tränen langsam über die Wangen der Frau. Da traf die beiden ein kräftiger Windstoß, der mit einem kalten Regenguss heranfegte, während sie ein Donnerschlag erschaudern ließ. Die Frau begann zu zittern.
»Komm herein«, sagte
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