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Am Horizont die Freiheit

Am Horizont die Freiheit

Titel: Am Horizont die Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Molist
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und Schande treffen. Nie wieder darf ich in dieser Stadt ein Gewerbe ausüben. Und du entfernst von mir den Menschen, den ich am meisten liebe. Anna … Vielleicht sehe ich sie nie wieder. Sie ist aus Angst vor diesen Inquisitoren fortgegangen, die behaupten, deinen Willen zu erfüllen. Meine Familie und auch meine Nachbarn waren gute Leute. Sie haben ihre religiösen Pflichten erfüllt, und jetzt sind sie tot oder Sklaven. Und das haben ihnen die Christen angetan, ebenso wie die Christen jetzt diese Stadt in Angst und Schrecken versetzen. Du erlaubst, dass das Unglück Unschuldige heimsucht. Und auch mich. Was habe ich Schlechtes getan? Warum hasst du mich?«
    Wütend ballte er die Fäuste und grub sich die Fingernägel in die Handflächen. Er beugte sich so weit nach vorn, bis er den Boden mit dem Kopf berührte. Da ertönten die Glocken. Die Sext, die Mittagsstunde, war schon gekommen. Er lief aus dem Kreuzschiff der Kirche davon und suchte Zuflucht im Halbdunkel, damit er dem Gottesdienst beiwohnen konnte, ohne aufzufallen. Die Mönche kamen wie üblich herein, stellten sich auf ihre gewohnten Plätze und verrichteten ihre Gebete. Joan betete manchmal mit, dann wieder schüttelte er ablehnend den Kopf. »Es kann nicht sein«, murmelte er. »Ein guter Gott würde niemals so viele Übel zulassen.«
    Nach dem Gottesdienst liefen die Mönche zum Refektorium, um zu Mittag zu essen. Joan folgte ihnen in einiger Entfernung. Er trat auf den Kreuzgang hinaus, als der letzte Mönch schon die Treppe zum Speisesaal hinaufstieg. Er hatte keinen Hunger. Tatsächlich wollte er nichts mit den Mönchen zu tun haben. Und auch nicht mit dem Gott, zu dem sie beteten. Er lief zu seiner Zelle, als er merkte, wie sich ihm eine feste Hand auf die Schulter legte: »Joan.« Es war der Subprior.
    Durch Tränen hindurch betrachtete der Junge das knochige und strenge Gesicht des Mönchs, und wütend versuchte er, die Hand von seiner Schulter abzuschütteln.
    »Joan, was hast du?«, wollte der Mann wissen und packte ihn noch fester.
    »Nichts! Lasst mich los!«
    »Ich habe dich während der Messe beobachtet. Was fehlt dir? Warum kommst du nicht in den Speisesaal hoch?«
    »Lasst mich los!«, sagte der Junge noch einmal. »Ich will Euer Essen nicht, und ich will auch Euren Gott nicht!«
    »Was?«, rief der Mönch entsetzt.
    »Ich will nicht …!«
    Bruder Antoni ließ ihn nicht zu Ende sprechen. Er stieß ihn zum Versammlungssaal der Mönche, drängte ihn hinein und schloss die Tür hinter sich. Joan wollte sich widersetzen, doch dieser Mann hatte überraschende Kräfte.
    »Sag das nie wieder!«, herrschte ihn der Mönch an.
    Durch die zwei Scheiben der Fenster zum Kreuzgang drang Licht in den Saal, und an diesem bewölkten Wintertag war es trübe. Der Ort kam Joan düster vor.
    »Ich will Euren Gott nicht!«, wiederholte der Junge wütend.
    Eine schallende Ohrfeige hallte an den Wänden des Raums wider, und das schmerzende Gesicht ließ Joan einen Augenblick den Schmerz seines Herzens vergessen. Der Mönch legte ihm beide Hände auf die Schultern, blickte ihm in die Augen und sagte überraschend liebevoll: »Sag das nie wieder, Joan! Allein dafür könnte dich die Inquisition zum Scheiterhaufen verurteilen! Niemand darf etwas derart Schreckliches von dir hören!«
    »Ich kümmere mich nicht um die Inquisition, ich kümmere mich nicht um Euch, ich kümmere mich nicht um Euren Gott!«
    »Aber, bist du verrückt geworden?« Der Mann bewahrte den liebevollen Ton, der zu seiner Art so gar nicht passte. »Was hast du, Junge?«
    Joan hielt es nicht länger aus. Schluchzend und mit versagender Stimme schilderte er dem Mönch seine Lage.
    »Beruhige dich und nimm dich zusammen. Alles hat gewiss einen Sinn«, tröstete ihn Bruder Antoni.
    »Einen Sinn?«, entgegnete der Junge. »Die Soldaten, die meinen Vater getötet haben, dienten Eurem Gott. Die Inquisitoren, die die Leute in Angst und Schrecken versetzen und Anna zur Flucht getrieben haben, dienen Eurem Gott. Derselbe Gott, der zulässt, dass ich für eine Tat büßen muss, obwohl ich unschuldig bin.«
    »Wenn du das sagst, irrst du dich. Hör zu: Verwechsle nicht die falschen, grausamen oder egoistischen Taten der Menschen mit Gottes Taten. Viele missbrauchen Seinen Namen, um ihre eigenen Bosheiten zu rechtfertigen. Die Soldaten, die deinen Vater getötet haben, haben nicht im Namen Gottes gehandelt, und auch die Inquisitoren tun es nicht. Sie mögen sagen, dass sie es tun, aber sie irren sich.

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