Am Meer ist es wärmer
sie.
Du wirst deinen Mann nie vergessen.
Das sagten Seijis weit geöffnete Augen mir ganz deutlich. Plötzlich bremste das Taxi. Ich ließ mich gegen Seiji fallen. Und setzte mich sofort wieder auf. Ich ärgerte mich. Warum hatte er mich ohne jede Vorwarnung angegriffen? Wie bei einem Tier, das von einem anderen angegriffen wird, stieg heftige Wut in mir auf.
Doch gleich verebbte sie wieder.
Seiji, sagte ich. Seiji, bitte, geh nicht.
»Du bist ein unmöglicher Mensch. Du lässt dich auf nichts und niemanden ein«, sagte er leise.
Warum? Ich zitterte. Meine Wut hatte mich alle Kraft gekostet.
»Du vertraust nichts und niemandem.«
Der dunkelrote Backstein des Bahnhofs leuchtete matt im Schein der untergehenden Sonne.
Seiji, sagte ich noch einmal. Er nahm das Geld aus seinem Portemonnaie, wartete auf die Quittung und stieg dann ruhig aus dem Taxi.
Nein, murmelte ich. Seiji kehrte mir den Rücken zu und ging auf das Bahnhofsgebäude zu. »Entschuldigen Sie«, sagte der Taxifahrer. »Wohin soll es jetzt gehen?«
Ein großer Lastwagen fuhr mit Getöse vorbei. Der kalte Luftzug strich durch meinen hochgestellten Kragen.
Seiji ging weiter. Nein, murmelte ich wieder.
Ich stieg aus dem Taxi und überquerte die Fahrbahn. Ein blauer PKW hupte. Ich schaute auf, und der Fahrer sah mich mit zusammengepressten Lippen vorwurfsvoll an.
Als unsere Blicke sich trafen, entspannten sich seine Züge, und sein Ausdruck wurde neutral.
Erstaunlich, wie deutlich ich das alles sehen konnte. Ich vermochte die kleinste Muskelbewegung in seinem Gesicht zu erkennen. Der Mann umfasste das Lenkrad und fuhr weiter. All das spielte sich innerhalb von Sekunden ab, dennoch kam es mir vor wie eine Ewigkeit.
Ich betrat ein Blumengeschäft auf der anderen Straßenseite und kaufte weiße Blumen. Sie hatten weniger Blütenblätter als Chrysanthemen, aber mehr als Gerbera. Wie sie hießen, wusste ich nicht. Ich nahm einen kleinen Strauß und bezahlte mit einem Tausend-Yen-Schein.
Ich weiß noch, dass ich das Wechselgeld in mein Portemonnaie steckte. Ab dann habe ich eine Gedächtnislücke.
Als nächstes sehe ich mich auf einer Bank zwischen Hochhäusern sitzen. Sie ist von hohen Bäumen umgeben. Ihre Schatten sind schwärzer als die einsetzende Dunkelheit.
Gedankenlos zupfte ich die weißen Blütenblätter aus.
Nach Sonnenuntergang kam niemand mehr hierher. Tagsüber aßen wahrscheinlich die jungen Frauen aus den Büros hier ihr Mittagessen und plauderten. Aber jetzt war es ganz still, es ging nicht einmal eine Brise.
Es sah hübsch aus, wie die weißen Blüten durch die Dunkelheit fielen. Ganz sachte segelten sie zu Boden. Eine nach der anderen.
Es waren viele, und meine Finger hatten unablässig zu tun.
Zu meinen Füßen bildete sich ein kleiner weißer Blütenberg. Ich musste daran denken, wie ich Momo einmal, als sie zwei Jahre alt war, ermahnt hatte, die Blüten einer gelben Blume, die sie auf der Wiese gepflückt hatte, nicht auszurupfen. Das tut der Blume weh, hatte ich zu ihr gesagt. Den weißen Blumen tut es ebenso weh wie den gelben, sagte ich nun im Stillen zu mir selbst.
Stumm, nur in meinem Kopf.
Unangenehm. Meine Stimme klang aufgesetzt. Auch die Art, wie ich es gesagt hatte.
Ich wusste nichts von dem Schmerz, den Blumen empfanden. Ich hatte keine Ahnung davon. Eigentlich hatte ich überhaupt kein Recht, Momo zu ermahnen. Aber sie hatte aufgehört. »Tut Blumen weh«, hatte sie gesagt und gelächelt.
Wir waren aufgestanden und hatten die Wiese verlassen. Ihre Blumen warf Momo fort. Ich tat, als hätte ich es nicht gesehen. Dann waren wir einträchtig Hand in Hand nach Hause gegangen.
Meine Mutter und Momo waren zu Hause, als ich zurückkam.
»Ich bin wieder da!«, rief ich.
»Hallo!«, ertönte es im Chor.
Als ich ins Wohnzimmer trat, merkte ich, dass sich etwas verändert hatte.
An einer ehemals kahlen Wand hingen Fotografien.
»Rei!«, rief ich unwillkürlich aus.
Sie hatten Fotos von früher an die Wand gepinnt.
»Wir haben sie beim Aufräumen gefunden.« Meine Mutter wich meinem Blick aus.
»Ich habe sie aufgehängt«, fügte Momo rasch hinzu.
Es gab nicht nur Fotos von Rei, sondern auch eins von mir mit Momo als Baby im Arm. Dann eins, auf dem Reis Eltern vor halbvollen Gläsern an einem japanischen Tisch saßen. Eines der Fotos zeigte die Söhne meiner Schwägerin am Feiertag für die Sieben-, Fünf- und Dreijährigen. Sie lachten. Rei war schon nicht mehr da gewesen, als meine Schwägerin es geschickt
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