Am Meer ist es wärmer
eines Tages - husch - ist es fort.«
Vor mir erschien Momos Gesicht. Es war mir abgewandt. Die Linie von ihrem Ohr bis zur Wange war weich, dennoch drückte sich ihr unbeugsamer Wille darin aus.
Gestern noch war mein Herz wegen Rei in Aufruhr, heute litt es wegen Seiji. Gestern hatte ich Momo noch fest im Arm gehalten, heute musste ich hilflos zusehen, wie sie sich von mir entfernte.
»So vieles hält mich in Atem. Ich bin wirklich eine Närrin.«
»Alle leiden unter diesen Dingen. Dieser Seiji - so heißt er doch, oder? - ist meiner Meinung nach ebenfalls ein Narr. Warum weist er dich so hartnäckig zurück?«, fragte die Frau.
Wieder verspürte ich diesen Schmerz in der Magengrube. Das Wort »zurückweisen« tat weh.
»Gibt es denn überhaupt etwas, das sich nicht verändert?«, fragte ich. Sie wiegte den Kopf. Es hätte ja oder nein heißen können, vielleicht auch weder noch.
»Einfach ins Meer werfen! Wie wäre das?«, sagte sie schließlich. »Es ist ein gutes Gefühl, etwas weit hinaus ins Meer zu werfen.«
Ich dachte daran, wie sie ihre Zwillinge ins Meer geworfen hatte. Die Wellen waren hoch. Zuerst hatte sie sie liebevoll an sich gedrückt und dann ohne jedes Zögern von sich geschleudert. Mit einer geschmeidigen Armbewegung. Nacheinander beide Kinder von sich geworfen. Sie waren sofort versunken.
Seiji meldete sich nicht. Einen Monat, zwei Monate lang.
Das neue Jahr brach an.
»Nun bin ich wieder ein Jahr älter«, sagte meine Mutter. »Im nächsten Jahr werde ich siebzig.«
»Warum wirst du auf einmal zwei Jahre älter?«, fragte Momo verständnislos.
»Zu Neujahr rechnet man automatisch ein Jahr hinzu. So zählt man das Alter eines Menschen«, antwortete meine Mutter.
»Versteh ich nicht.« Momo lachte. »Warum haben die Leute früher ihr Alter so ungünstig berechnet?«
»Aha, ich bin also von gestern?« Meine Mutter stimmte in Momos Lachen ein. »Früher galt ein hohes Alter als glückverheißend. Deshalb machte man sich wohl gern ein bisschen älter«, fügte sie hinzu. Momo nickte ernst.
Ich musste auch lachen, weil es mir absurd erschien, wie unbekümmert sie über Belanglosigkeiten plauderten, während ich so unglücklich wegen Seiji war.
Meine Mutter und ich bereiteten das Neujahrsessen gemeinsam vor. Neben dem Kasten mit verschiedenen kleinen Speisen gab es natürlich Zoni, die traditionelle Suppe mit Gemüse und Reisklößen.
»Und warum gibt es bei uns keine Seebrasse und keine Garnelen zu Neujahr?«, murrte Momo.
»Die sehen zwar lecker aus, aber schmecken tun sie nicht besonders«, erwiderte meine Mutter.
»Wirklich? Aber bei den fertigen Neujahrskästen, die man im Laden kauft, sind immer Garnelen dabei, manchmal sogar eine ganze Brasse.«
Ich dachte an die Zoni, wie man sie in Reis Heimat zubereitete. Am ersten Neujahr nach unserer Hochzeit hatte ich sie auf diese Weise gekocht - mit einem Seetang-Fond, heller Misopaste, ungerösteten runden Reisklößen, Rettich und leuchtend roten Karotten. Für mich schmeckte sie ungewöhnlich, aber gut. Am zweiten Feiertag machte ich eine klare Suppe mit Chinakohl, Hähnchenfleisch, Dreiblätterkraut und gerösteten Reisklößen nach Tokioter Art, wie ich es von meiner Mutter gelernt hatte.
»Zu Neujahr ist die Luft immer rein.« Rei legte sich auf die Tatami. Sein Gesicht war vom Alkohol gerötet. »Tagsüber hat Sake eine stärkere Wirkung«, erklärte er und fing sogleich an zu schnarchen.
Ob Seiji die Feiertage mit seiner Familie verbrachte?
Der Gedanke versetzte mir einen Stich. Bisher war ich nie eifersüchtig auf seine Frau oder seine Kinder gewesen. Überhaupt war Familie mir ein fremder Begriff. Die Familie, in die ich hineingeboren war, hatte ich nicht selbst gegründet, und mein Versuch, eine eigene Familie zu gründen, war gescheitert. Ich hatte nie eine Familie gehabt, die wirklich zu mir gehörte.
Und jetzt war ich eifersüchtig.
Nicht etwa, weil ich keine Familie mit Seiji hatte, sondern weil seine Familie das Recht hatte, mit ihm zusammen zu sein.
Unser Neujahrskasten wies bereits einige Lücken auf. An diesen Stellen schimmerte feucht der Boden des Lackkastens hindurch. Doch sobald ich die Fächer aufgefüllt hatte, waren die Lücken vergessen.
Ich fühlte mich nicht wohl. Noch immer verspürte ich dieses Stechen im Magen.
»Er ist da, auch wenn er nicht da ist.«
Tippte ich in meinen Laptop.
Seiji hatte mir geraten, einen Roman zu schreiben. Obwohl die Neujahrsfeiertage bereits vorüber waren, hatte er
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