Am Meer ist es wärmer
hatte.
Momo hatte die Fotografien mit Absicht unregelmäßig angeordnet, so dass es künstlerisch wirkte.
Auch ein Foto von meinen Eltern und mir hatte sie aufgehängt. Ich konnte mich noch genau an den Tag erinnern, als es gemacht wurde. Es war in den Frühjahrsferien, bevor ich in die elfte Klasse kam. Mein Vater, der damals in einer anderen Stadt arbeitete, war übers Wochenende nach Hause gekommen. Wir wollten in einem Restaurant in Ginza zu Abend essen und hatten uns hübsch gemacht. Vorher sollte im Garten ein Foto aufgenommen werden. Die Frühlingsluft war noch kühl. Mein Vater stellte den Apparat auf einen Torpfosten und schaltete auf Selbstauslöser. Der erste Versuch schlug fehl. Vor dem zweiten wandte meine Mutter ein, drei Personen auf einem Bild brächten Unglück. »Kei, hol doch die kleine Puppe aus dem Flur. Die aus Glas. Man muss sie nicht sehen, du kannst sie einfach in der Hand halten. Hauptsache, sie ist mit dabei.«
Ich lief in den Flur und holte die Puppe. Sie fühlte sich kalt an. Das Foto, auf dem nur wir drei zu sehen waren, hatte mich beunruhigt, weil wir eigentlich vier waren.
Fünfzehn alte Fotos hingen an der Wand.
»Die gab es also noch«, sagte ich.
Momo sah mich an. »Wenn ich sie mir so an der Wand betrachte, kommen sie mir sehr wirklich vor.« Sie sprach das Wort »wirklich« mit Nachdruck aus.
»Sie bilden ja auch die Wirklichkeit ab. So war es ja.«
Momo senkte den Kopf. »Aber ich kann mich nicht daran erinnern, ob es wirklich so war oder nicht.«
Meine Mutter lachte etwas schrill.
Rei hielt den Blick starr auf etwas gerichtet. Was es war, wusste ich nicht mehr.
Ob Seiji mir den Gefallen tun würde, sich mit mir zu verabreden?
Ich war selbst überrascht von meiner Ausdrucksweise. Taten wir uns denn gegenseitig nur einen Gefallen? War das die Basis unserer Beziehung gewesen?
Nein, das konnte nicht sein. Ich schüttelte den Kopf.
Also nahm ich all meinen Mut zusammen und rief ihn an. Ich hatte früher einmal zu ihm gesagt, ich würde nicht gern mit ihm telefonieren, weil ich ihn dabei nicht sehen könne.
»Wie du meinst. Mir ist alles recht«, hatte er geantwortet.
Ich musste ein bisschen lachen. Aber ihm schien wirklich alles recht zu sein. Er wirkte stets ruhig und ausgeglichen, so als würde er sich nie aufregen.
»Ähem...«, setzte ich an.
»Im Augenblick passt es mir nicht«, unterbrach Seiji mich förmlich.
»Aber...«, beharrte ich.
»Es passt wirklich nicht.«
Natürlich konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Ich lauschte auf Geräusche im Hintergrund, aber es war nichts zu hören. Ob er im Büro war oder unterwegs? In einer Besprechung war er wohl nicht, dann hätte er sich sofort gemeldet.
Oder hatte er den Konferenzraum verlassen? Aber das hätte er doch nicht getan, sofern er entschlossen war, das Telefonat gleich wieder zu beenden.
Ich hasse es zu telefonieren, dachte ich einmal mehr.
»Könntest du mich kurz anrufen, wenn du wieder Zeit hast?«
Seiji zögerte. Als würde er mich gleich bitten, ihn nicht mehr anzurufen.
Warum Seiji sich so verhielt, war mir ein Rätsel.
Auch warum er gesagt hatte, ich würde mich auf nichts einlassen, war mir unverständlich. Das stimmte nicht. Sonst hätte ich doch kein Kind auf die Welt bringen können. Auch die Beziehung zu ihm hätte ich nicht eingehen können. Ich würde nicht einmal atmen, um zu leben.
Dennoch beschlich mich die Erkenntnis, dass ich vielleicht wirklich kein Vertrauen zu nichts und niemandem hatte.
Seit dem Tag? Seit dem Tag, an dem Rei verschwunden war?
Ruhig, aber entschieden beendete Seiji das Gespräch. Er kann ohne mich leben, dachte ich, und musste ein bisschen weinen.
»Du bist eine Närrin«, sagte die Frau. Sie war schon länger nicht mehr bei mir gewesen.
»Wenn du die Sache mit Rei meinst - das geht dich gar nichts an«, erwiderte ich etwas beleidigt.
Die Frau lachte. »Die Lebenden sind ständig beschäftigt.« Sie lachte wieder.
Tatsächlich hatte ich unentwegt mit meinem Leben zu tun. Morgens, mittags, abends, nachts und wieder morgens. Ständig änderte sich die Stimmung, immer war etwas anderes los. Aber schließlich trägt man ja auch nicht jahrein jahraus den selben Hut.
»Mit Momo ist jetzt auch alles anders«, fuhr ich fort, obwohl ich mir von der Frau kein Verständnis erhoffte.
»Ja, mit dem eigenen Kind ist es besonders schwierig«, sagte sie mitfühlender, als ich es erwartet hatte. »Man freut sich und frohlockt, wenn es sich gut entwickelt, und dann
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