Am Meer ist es wärmer
Kei?« Ohne auf meine Bitte einzugehen, musterte Seiji mich weiter forschend. Der Geschmack von Blut breitete sich in meinem Mund aus.
»Warum hast du Angst? Du bist doch bei mir.« Seine Stimme klang ruhig. Für einen Augenblick legte sich meine Panik. Doch schon im nächsten Moment war sie wieder da.
Weil die Erinnerung immer wieder kommt, erwiderte ich stumm. Am nächtlichen Strand von Manazuru ist mir alles wieder eingefallen.
Seiji streckte die Hand aus und wischte den Soßenrest in meinem Mundwinkel mit dem Daumen weg.
Momo war zu Hause, als ich zurückkam.
Sie betrachtete einen Kalender. Er hatte nur noch zwei Blätter. Einschließlich Oktober waren bereits alle abgerissen.
»Hast du etwas vor?«
»Nein, nichts Bestimmtes«, antwortete sie kurz.
Sie sah zuerst weg, wandte sich mir aber gleich wieder zu.
»Wie alt wäre eigentlich mein Vater, wenn er noch leben würde?«
»Wie bitte?«, entfuhr es mir. Was mich wohl so erschreckte? Die Formulierung »wenn er noch leben würde« oder die Frage nach dem Alter? Jedenfalls antwortete ich in möglichst neutralem Ton, er sei zwei Jahre älter als ich, mithin wäre er siebenundvierzig Jahre alt.
»Er hat im Herbst Geburtstag, oder?«
War November noch Herbst? Nicht eigentlich schon Winter? Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, in welcher Jahreszeit Rei geboren war. Ob Momo oft an ihn dachte? Hatte sie ihren verschwundenen Vater etwa ständig im Hinterkopf?
»Ich bin im Frühling geboren.«
»Genau, im Frühling. Würdest du gern ein Stück Kuchen essen?« Ich versuchte das Thema zu wechseln. In letzter Zeit hatten wir kaum zusammen Kuchen gegessen. Sie lehnte immer ab.
»Gerne!«, antwortete sie erfreut. Rasch, ehe ihre gute Stimmung schwand, holte ich die Teller aus dem Schrank und öffnete behutsam die Schachtel mit dem Kuchen. Hübsch garnierte Tortenstücke kamen zum Vorschein.
Momo nahm von der Maronentorte, die Seiji eigens für sie ausgesucht hatte. »Mädchen mögen so was«, hatte er in liebevollem Ton gesagt. Selbst hatte er auch Maronentorte zum Dessert gegessen.
»Schmeckt gut. Wo hast du die geholt?«, fragte sie, während sie mit der Gabel die Maronencreme abtrug.
»In Ebisu. Ich hatte beruflich dort zu tun.« Ihr gegenüber erwähnte ich Seiji nie, sondern sprach stets nur von Geschäftsterminen.
»Mit wem warst du denn dort?«
Momo wusste Bescheid. Sie wollte wissen, was sich hinter dem Wort »geschäftlich« verbarg. Sie war neugierig, denn sie konnte noch nicht ahnen, wie langweilig solche Dinge werden konnten.
»Mit einem Mann.«
»Hat er Ähnlichkeit mit meinem Vater?«
»Nein.«
Etwas blitzte auf. Es war nicht direkt ein Funke, aber es war ein schneidender Hass, der auf mich herabregnete.
»Was weißt du noch von deinem Vater?«, fragte ich, ohne darauf zu achten.
»Ich war erst drei Jahre alt. Ich kann mich nicht an ihn erinnern.«
Sie hatte recht. Sie war ja erst drei gewesen, als Rei verschwand. Sie hatte kein Objekt, auf das sie ihre Gefühle richten konnte. Meine arme kleine Momo. Schon lange hatte sie mir nicht so leid getan. Alles an ihr erregte nun mein Mitleid, ihr Mund, mit dem sie die Creme verspeiste, ihr zunehmend markantes Gesicht, die Hand mit dem schmalen Gelenk, die gereizt das Haar zur Seite strich.
Die Treppe knarrte. Meine Mutter kam herunter.
»Möchtest du auch ein Stückchen Kuchen?«, rief ich mit heiterer Stimme.
Momo ließ es noch immer Abneigung regnen.
»Im Augenblick nicht, danke«, erwiderte meine Mutter müde.
Ich erhielt einen Brief von Reis Vater.
»Ich betrachte meinen Sohn als tot. Damit ich um ihn trauern kann, habe ich einen postumen Namen für ihn ausgewählt und eine Totentafel anfertigen lassen. Bitte verzeihen Sie, dass wir nicht vorher mit Ihnen gesprochen haben. Ich werde selbst bald bei meinem Sohn sein. Sind Sie noch als seine Ehefrau registriert? Bitte tun Sie in dieser Beziehung, was Sie für richtig erachten. Bleiben Sie gesund und leben Sie wohl.«
Ich dachte an die Stadt an der Inlandsee, an deren terrassierten Hängen die Häuser sich dicht aneinander schmiegten. Die zahllosen Gassen waren mir damals wie ein Labyrinth erschienen. An den Abenden wehten von unten die Essensgerüche und -geräusche der Nachbarn ins Haus.
Dreizehn Jahre waren seit Reis Verschwinden vergangen.
Offenbar war für seine Familie die Zeit gekommen, seinen Tod zu akzeptieren.
»Sie haben eine Totentafel machen lassen«, erzählte ich meiner Mutter.
»Wie lautet sein
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