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Am Meer ist es wärmer

Titel: Am Meer ist es wärmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hiromi Kawakami
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sie fest.
    »Es ist das erste Mal, dass wir uns so direkt berühren«, sagte sie leise.
    Ich setzte mich auf einen nassen Felsen und blickte auf den Horizont. Eine lange Brücke überspannte die Bucht. Wir hielten uns noch immer an den Händen. Ihre Hände waren warm, so als sei sie lebendig.
    »Warum können wir uns auf einmal berühren?«, fragte ich.
    »Ich weiß es nicht. Vielleicht sind wir uns näher als früher?«
    War ich wieder nach Manazuru gekommen, weil ich der Frau nun so nah war?
    »Ich will Rei sehen«, bat ich sie.
    »Willst du das wirklich?«
    »Ja.«
    »Auch wenn du dann vielleicht nicht mehr zurückkannst?«
    »Dann ist es eben so.«
    »Und deine Tochter?«
    »Sie braucht mich nicht mehr.«
    »Glaubst du das wirklich?«, sagte die Frau und runzelte die Stirn. »So einfach ist das nicht.«
    »Natürlich ist das nicht einfach«, sagte ich. Ich umklammerte ihre Hand. Sie löste sich auf. Leere blieb zurück. Die Frau war verschwunden.
    »Geh nicht!«, rief ich.
    Die Wellen tosten. Zwei schwarze Lastwagen dröhnten hintereinander über die Brücke. Die Frau kam nicht wieder.
    Ich hatte nicht gewusst, wie einsam es hier war.
    Nachdem ich lange gelaufen war, gelangte ich vom Strand auf eine Anhöhe mit einem Schrein der Glücksgöttin Benten. Dort betete ich. Im Dämmerlicht waren die Schemen einiger Statuen zu sehen. Der Schrein wirkte heruntergekommen, dennoch wurde mir leichter ums Herz. Ich hatte das behagliche Gefühl, mich an einem vertrauten Ort zu befinden.
    Ich blieb eine Weile sitzen und wartete, ob vielleicht etwas Bekanntes auftauchen würde, aber nichts erschien.
    Als mir kalt wurde, machte ich mich wieder auf den Weg. Ich stieg die Schreintreppe hinunter und kam in ein Dorf mit gepflegten Häusern und Hecken. Alle Fenster waren fest verschlossen. Keine Menschenseele. Ich stieg die Stufen zu einem Chigo-Schrein hinauf. Weder im Inneren noch auf dem Gelände war jemand zu sehen.
    Ich ging die Treppe hinunter und bog in der Mitte in einen schmalen, von Häusern gesäumten Weg ein. Alle Türen waren geschlossen. Die Mandarinenbäume hingen voller kleiner Früchte, an denen die Vögel pickten. Ihr Gezwitscher war das einzige Geräusch.
    Der Weg führte abwechselnd steil bergauf und bergab. Ich kam an eine Schule und lauschte auf Kinderstimmen, aber auch hier war kein Mensch. Der Wind kräuselte die Pfützen im Schulhof. Es klingelte zur Pause. Ich wartete, ob jemand aus dem Schulgebäude kam. Doch niemand erschien. Alle Klassenzimmer waren dunkel und schienen verlassen.
    Hallo, rief ich aufs Geratewohl.
    Und noch einmal: Hallo!
    Ich beschleunigte meine Schritte, eilte an einer Statue des Bodhisattvas Jizō vorbei und kam an einer Feuerwehrwache heraus. Die roten Wagen standen wie eingefroren in einer Reihe. Auch hier rührte sich nichts. Ich verließ den Pfad und fand die Straße, auf der der Bus fuhr.
    Doch so weit ich auch ging, ich sah weder ein Auto, noch fuhr der Bus an mir vorbei. An einer Haltestelle las ich den Fahrplan. Der nächste sollte in zehn Minuten kommen. Ich dachte an den Tag im Sommer, als das Schiff gekentert war. Da es so kalt war, sah ich mich nach einem Lokal um, aber nichts hatte geöffnet.
    Ich setzte mich auf die Bank. Schließlich zog ich mir Kaffee aus einem Automaten neben der Haltestelle. Mit Zucker. Das tat ich sonst nie. Wieder auf der Bank, umfasste ich die Dose mit beiden Händen. Sie kühlte rasch ab.
    Ich öffnete die Dose und trank. Noch einmal schaute ich auf den Fahrplan und dann auf meine Uhr: Der Bus fuhr in zehn Minuten. Als ich den Kaffee ausgetrunken hatte, sah ich wieder auf die Uhr. Der Bus fuhr in zehn Minuten.
    Über dem Meer kreiste ein einsamer Milan.
    Wer weiß, wie oft vergewisserte ich mich, dass der Bus in zehn Minuten fahren würde.
    Wo war ich gelandet?
    Es wehte eine Brise. Auf dem Häuschen, wo man die Karten für die Schiffsrundfahrten um die Halbinsel von Manazuru kaufte, saßen ein paar Möwen. Auf dem verfallenen Dach wuchs Gras. Die Möwen kreischten.
    Alles - der Fischmarkt, die Nudellokale und Kneipen um den Markt herum, sogar der Steinbruch am Berg - war verfallen. Aus den Rissen im Asphalt der Straße wucherte mageres struppiges Gras.
    Über der Bank an der Haltestelle tanzte ein Mückenschwarm. Obwohl es Winter war, wimmelte es von den fliegenden Insekten.
    »Komm zurück!«, hörte ich die Frau rufen.
    Aber sehen konnte ich sie nicht. In zehn Minuten fuhr der Bus. Ich hatte Angst, die Bank zu verlassen und zögerte. Wie

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