Am Meer ist es wärmer
ich fest, dass auch die anderen Passagiere in diesem überfüllten Waggon sich an die Stangen klammerten wie Zweige an einem Baum oder sich um sie wanden wie Efeu oder Misteln um ihre Wirtspflanze.
Sooft die Bahn hielt, wurden Fahrgäste wie Atem ausgestoßen und eingesogen. Obwohl ich kaum Luft bekam, war ich wie in Trance. Was vielleicht daher rührte, dass ich nichts vorhatte. Hätten sich Erledigungen und Termine in meinem Kopf gedrängt wie Insekteneier, hätte ich mich wohl nicht so frei gefühlt.
Am Bahnhof Tokio stieg ich in einen Zug nach Manazuru. Ich setzte mich an ein Fenster zur Meerseite. Obwohl noch nichts davon zu sehen war, konnte ich es riechen.
»Es sieht nach Regen aus«, sagte die Frau mir gegenüber zu ihrem Mitreisenden.
Ich blickte aus dem Fenster. Der Himmel war fahl. Er war weder grau noch blau, sondern hatte eine wässrige Farbe, die mich an die dünne Flüssigkeit erinnerte, die bisweilen als erstes aus einer Farbtube kommt. Bei roter Farbe ist sie blassrot, bei schwarzer Farbe ganz leicht schwarz.
Vielleicht roch es nach Regen und gar nicht nach Meer. Hinter Fujisawa fiel ein feiner scharfer Regen ins Meer, das man ungefähr ab Ninomiya hin und wieder sehen konnte.
Ich dachte an das traurige Gesicht meiner Mutter, als ich gegangen war.
Und an Seiji.
Bei meinem ersten Besuch in Manazuru war der Frühling schon etwas weiter gewesen als jetzt. Milane kreisten am unendlich weiten Himmel.
»Wir müssen einen Schirm kaufen«, sagte die Frau mir gegenüber.
»Wir nehmen ein Taxi«, sagte der Mann.
Die leicht ineinander verschlungenen Finger der beiden waren mir unangenehm bewusst. Ich sah ihre rotlackierten Nägel, seinen schuppig-rauhen Ringfinger, ihren kleinen Finger mit dem Muttermal und seine knochigen Gelenke so deutlich vor mir, als würde ich sie durch eine Lupe betrachten.
»Bitte, stirb nicht«, sagte sie.
Wahrscheinlich hatte ich mich verhört. Aber ich wollte es gar nicht wissen und hörte absichtlich weg.
Er antwortete nicht.
»Stirb nicht«, sagte sie noch einmal.
Ich hatte mich also nicht verhört. Ich war gelangweilt.
Gleich würden wir in Manazuru sein. Ihre schlanken Finger spielten mit seiner Hand.
Es regnete heftig.
Nachdem ich an einem Kiosk einen durchsichtigen Schirm erworben hatte, trat ich auf die Straße. Der Bus zum Strand würde erst in einer Stunde kommen. Also beschloss ich, zu Fuß zu gehen und drückte meine Tasche energisch an die Seite.
Der Regen spritzte an meine Beine. »Hier bin ich«, rief ich der Frau zu, die mir in Manazuru zu folgen pflegte.
Keine Antwort.
Nachdem ich zwanzig Minuten gegangen war, fror ich entsetzlich. Ich sah durch den Schirm zum Himmel, aber der prasselnde Regen nahm mir die Sicht. Der durchnässte Saum meines Mantels klatschte mir gegen die Beine.
An einer Stelle, wo die Straße bergab führte, gab es ein paar Geschäfte. Ein Nudellokal mit einem Werbe-Banner hatte geöffnet. Es war gerade Mittagszeit und ziemlich voll. Ich bestellte Udon mit heißer Brühe.
Ich löffelte die Suppe. Sie war so heiß, dass ich mir fast die Zunge verbrannte. Ich aß langsam, während sich das Lokal leerte.
»Die Pension Suna ist doch hier ganz in der Nähe, nicht wahr?«, fragte ich die Kellnerin.
»Sie meinen sicher das Minato-ya am Strand«, erwiderte sie.
Ich spürte so etwas wie den Schatten der Frau.
Ich schöpfte die letzten Tropfen meiner Suppe mit dem chinesischen Löffel. Der Schatten schwebte leicht lauernd in der Höhe meiner Hüfte. »Du kommst immer, wenn ich esse, was?«, murmelte ich. Der Schatten verdichtete sich ein wenig.
Als ich das Lokal verließ, hatte es aufgehört zu regnen. Der Himmel war dunkler als während des Regens. Ich überquerte den grauen Asphalt und ging an den Strand.
Die Wellen waren hoch.
Ich versuchte, an Seiji zu denken, aber ich konnte nicht.
»Wenn du nach Manazuru kommst, musst du auch ganz hier sein«, ertönte die Stimme der Frau.
Der Schatten hatte mittlerweile deutliche Gestalt angenommen. Die Frau hatte langes Haar und sah hübscher aus als früher. Auch ihre Stimme war klarer.
»Hast du ein Zimmer genommen?«, fragte sie.
»Noch nicht. Ich weiß nicht, ob ich heute hier übernachte oder nicht.«
»Dann kann es sein, dass du nie wieder zurückkommst.«
»Was soll das heißen?«, fragte ich, aber sie gab keine Antwort.
Ich ging mit ihr zum Strand hinunter. »Wir sind wie Freundinnen«, sagte ich, und sie lächelte.
Sie streckte mir ihre Hand entgegen, und ich umschloss
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