Am Meer ist es wärmer
Seiji ab. Deshalb ging ich in letzter Zeit kaum aus. In der feuchtwarmen Luft im Haus konnte ich alles vergessen.
Wer wohl so früh am Morgen anrief? Den Pyjama noch am Bein, hob ich ab.
Es war Seiji.
»Oh, guten Morgen!«, sagte ich mit heiterer Stimme. Beinahe hätte ich mich dafür entschuldigt, dass mir die Schlafanzughose noch am Bein hing, aber das wollte ich Seiji lieber nicht sagen.
»Entschuldige, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Geht es dir gut?« Er sprach wie immer in einer Mischung aus förmlich und vertraulich.
»Was ist denn? Ist was passiert?«, fragte ich beunruhigt. Seiji war kein Mensch, der so mir nichts dir nichts zur Tagesordnung zurückkehren konnte, als wäre nichts geschehen. Meine Sorge um ihn überwog nun die Angst und die Enttäuschung, die mich gequält hatten, weil er nicht mehr anrief.
»Nein, gar nichts.«
Wärme durchströmte meinen ganzen Körper, so als hätte ich eine heiße Suppe gegessen.
»Ich bin sehr froh, deine Stimme zu hören«, sprudelte ich hervor, ohne nachzudenken. Seiji schwieg. Ich fühlte mich abgewiesen.
»Was macht dein Roman?«
»Mein Roman?«, wiederholte ich, trotz der Zurückweisung erfreut über seinen Anruf.
»Arbeitest du daran?«
»Ein wenig.«
Der Roman, von dem ich bisher zwei Zeilen geschrieben hatte. Seiji würde mich endgültig verlassen, dessen war ich mir sicher, während ich auf seine Stimme lauschte. Und dennoch war ich froh. Einfach nur, weil ich seine Stimme hörte.
Leb wohl, dachte ich, derweil ich mein linkes Bein von der Hose befreite. Ich warf sie in die oben offene Waschmaschine. Nachdem ich die Maschine eingeschaltet hatte, gab ich einen Messbecher Waschmittel hinzu. Ich umfasste meinen nackten Oberschenkel. Er fühlte sich geschmeidig und weich an. »Könntest du ihn einmal lesen, wenn er fertig ist?«, sagte ich zu Seiji und legte auf. Was er wohl so früh am Morgen gewollt hatte?
Die Trommel drehte sich, und kleine Strudel entstanden. Das Wasser war kalt an diesem winterlichen Morgen. Das Waschpulver löste sich nur schlecht auf und bildete weiße Klümpchen. Es schäumte und spritzte.
Ich hielt mich an der Badzimmertür fest und dachte an Seijis weiche Lippen, die sich anfühlten wie fleischige Blütenblätter. »Seiji!«, rief ich. Niemand antwortete. Niemand war da. Alle verließen mich und gingen fort.
7
Es zog mich körperlich nach Manazuru.
Mein Körper bewegte sich, ohne dass ich es wollte, wie von alleine.
»Schon wieder nach Manazuru?«, fragte meine Mutter, als ich aufbrach.
Ich weiß noch, dass Momo sich gerade im Flur die Schuhe anzog und meiner Mutter einen Abschiedsgruß zurief, während ich hastig die Eier mit Speck auf meinem Teller verschlang. Ich weiß auch noch, dass ich einen Kloß im Hals hatte und das Schlucken mir schwerfiel, aber wer die Eier mit Speck gemacht hatte - meine Mutter oder ich - weiß ich nicht mehr. Auch daran, ob ich das Geschirr anschließend in die Küche brachte und abwusch, kann ich mich nicht erinnern. Jedenfalls ging ich in mein Zimmer, nahm einen dicken Pullover aus dem Schrank, zog meinen Mantel an und wickelte mir einen Schal um den Hals. Ich packte Portemonnaie und Unterwäsche in eine Tasche, sprang über Momos braune Hausschuhe, die sie unordentlich in den Flur geworfen hatte, und griff nach der Tür.
»Warte«, sagte meine Mutter.
»Ja?«
»Was gibt es denn so Besonderes in Manazuru?«, fragte sie mich mit bedrückter Miene.
Ich wich ihrem Blick aus.
Als mein Vater noch lebte, hatte ich einmal geträumt, wie meine Mutter Geschlechtsverkehr hatte. Ihre glatte Haut schimmerte im Dunkeln. Ich sah sie nur von hinten, aber ich brauchte ihr Gesicht nicht zu sehen, um zu wissen, dass es meine Mutter war. Der Mann hätte mein Vater sein können oder auch nicht. Es spielte keine Rolle. Für mich war nur wichtig, dass es meine Mutter war.
Die Szene machte mir Angst. Zugleich war ich auch erleichtert. Ich hatte es nicht sehen wollen, aber da ich es nun endlich gesehen hatte, brauchte ich fortan nicht mehr auf der Hut zu sein.
Das Gesicht meiner Mutter mutete mich ebenso traurig an wie damals in meinem Traum ihr Rücken.
»Nichts, aber ich fahre trotzdem.« Meine Stimme klang nicht wie meine, aber natürlich war sie es. Ich verließ das Haus.
Die Bahn war furchtbar voll.
Von allen Seiten eingequetscht wurde ich von Station zu Station befördert, ohne mich rühren zu können. Ich fühlte mich wie der Zweig eines Baumes. Mit einem Blick in die Runde stellte
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