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Am Meer ist es wärmer

Titel: Am Meer ist es wärmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hiromi Kawakami
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Ohrensausen überfiel mich der Gedanke an Rei. Ich liebte ihn. Aber eigentlich wusste ich noch immer nicht, was das Wort Liebe bedeutete. Vermutlich konnte man meine Gefühle für ihn als Liebe bezeichnen. Liebe hatte keinen Nutzen. Besonders hier nicht. Dennoch liebte ich Rei.
    Auch nachdem er mich verlassen hatte, liebte ich ihn noch. Ich konnte nicht aufhören, ihn zu lieben. Es war schwierig, jemanden zu lieben, der nicht da war. Das Gefühl verkehrte sich in sich selbst. Wie man einen Stoffbeutel wendet, kehrte sich auch das Gefühl von außen nach innen.
    Verwandelte sich nach innen gekehrte Liebe in ihr Gegenteil?
    Nein.
    War das Gegenteil von Liebe Hass? Oder war Hass gleichbedeutend mit Liebe? Das ließ sich nicht so einfach klären.
    Es wurde zu etwas Vagem, Trübem, Undeutlichem, Fremdartigem.
    In zehn Minuten fuhr der Bus.
    Es war kalt. Der Milan kreiste unablässig über der gleichen Stelle.
    Einmal im Frühling hatten Rei und ich einen Ausflug ins Grüne unternommen.
    Ich trug Momo auf dem Arm, die Forsythien leuchteten gelb, und die Spiersträucher hatten weiße Blüten.
    »Da, eine Schaukel«, sagte Rei.
    Ich gab ihm Momo und setzte mich auf die Schaukel. Ich schwang hoch hinauf und blickte auf die beiden hinunter. Bei jedem Schwung lachte Momo laut.
    Sobald ich mich nicht mehr abstieß, verlor die Schaukel an Fahrt. Ich erwartete, dass sie rasch zum Stillstand kommen würde, aber sie schwang noch lange kraftlos hin und her.
    Rei setzte Momo auf dem Boden ab und stieß mich von hinten an. Erneut gewann die Schaukel an Schwung. Momo versuchte aufzustehen. Sie konnte noch nicht allein laufen. Einen Moment lang stand sie aufrecht da, fiel aber sofort wieder auf ihr Hinterteil. Sie saß mit gespreizten Beinchen da und klatschte vergnügt in die Hände.
    Rei stieß mich kräftig an.
    Hör auf, bitte!, bat ich. Er lachte nur. Ein volles, heiteres Lachen.
    Wenn ich die Augen schloss, empfand ich die Höhe stärker. Ich hatte das Gefühl, zwischen Himmel und Erde zu pendeln, obwohl ich in Wirklichkeit höchstens zwei Meter über dem Boden war.
    Wohin werde ich geschleudert, wenn ich jetzt loslasse?, dachte ich, die Augen fest zugekniffen, tief im Innersten meines Gehirns.
    Sooft Reis Hände meinen Rücken berührten, kehrte mein Körper zur Erde zurück, aber etwas anderes, das weder mein Körper noch mein Geist war, etwas Undefinierbares, etwas Vages, das kehrte nicht zurück.
    Als ich die Augen wieder öffnete, breitete sich vor mir die Wiese aus, und Momo und Rei sahen mich an. Sie waren unverändert.
    Ich stemmte die Füße kraftvoll in den Boden und hielt die Schaukel an. Wieder klatschte Momo in die Hände.
    Als Rei sie hochhob, lachte sie noch lauter.
    Es war im Herbst auf der gleichen Wiese.
    An ihrem Ende gab es eine Seilbahnstation mit einem kleinen kastenförmigen Waggon, der wie ein Käfer an einem Stahlseil den Berghang hinaufkroch.
    »Komm, wir fahren mit der Seilbahn«, schlug Rei vor.
    Gegen meinen Willen stieg ich ein.
    Etwa in der Mitte gab es noch eine Station, an der alle außer uns ausstiegen. Da die Bahn automatisch betrieben wurde, waren wir nun ganz allein. Die Durchsagen kamen über Lautsprecher.
    An der nächsten Station hielt die Bahn an. Der Lautsprecher fiel plötzlich aus. Es schien etwas nicht in Ordnung zu sein. Doch Rei sah weiter gelassen aus dem Fenster.
    »Komm, wir steigen aus und durchtrennen das Seil«, sagte er, als wäre ihm gerade eine besonders gute Idee gekommen.
    »Das geht nicht«, sagte ich. Ich war sicher, dass ich träumte. Ob man das Seil durchschneiden konnte, auch wenn es nur im Traum war?
    Wir stiegen an der zugigen Station aus und drückten einen Alarmknopf. Der Waggon rollte langsam in Richtung Tal, überschlug sich auf dem Berghang, traf unten auf und zerschellte.
    »Rei, ich habe Angst. Warum sind wir hier?«, fragte ich.
    »Da ist doch nichts dabei. So geht es eben zu im Leben«, antwortete er.
    Hin und wieder traf mich ein starker Windstoß, so dass ich beinahe davongeweht worden wäre. Obwohl ich träumte, spürte ich die Kraft und die Kälte des Windes ganz deutlich.
    Tief unter uns breitete sich die herbstliche Wiese aus. Ich legte meine Hand um Reis Hüfte. Gestern, als er von der Arbeit nach Hause kam und ich seinen Anzug auf einen Bügel hängte, hatte ich die herausgesprengten Schrauben und die glänzenden verdrehten Stahlteile des geborstenen Waggons vor mir gesehen.
    »Ja, so etwas kommt im alltäglichen Leben wohl häufig vor.«
    »Ja,

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