Am Mittwoch wird der Rabbi nass
allein stand, musste er zugeben, dass ihm der Gedanke gekommen war, als er von Kestlers Tod hörte. Nur hatte er sich nicht die Mühe gemacht, sich zu vergewissern, so sicher war er seiner selbst gewesen. Oder hatte er Angst gehabt?
Obwohl das Klausurprogramm für den Sonntag noch ein Abendessen und eine anschließende Zusammenkunft vorsah, beschloss er, nicht so lange zu warten, sondern direkt nach der Meditation heimzufahren. Er musste seine Unterlagen prüfen; er konnte und wollte nicht länger warten.
Seinem Zimmergenossen erzählte er eine Lüge. Er müsse noch vor dem Mittagessen einen Patienten besuchen. Dieselbe Ausrede benutzte er Rabbi Mezzik gegenüber.
«Und haben Sie Nutzen aus diesem Erlebnis gezogen?», erkundigte sich Mezzik wohlwollend.
«Ich glaube schon. Die Ruhe hat mir gut getan.»
«Und das religiöse Erlebnis? Hat Ihnen das geholfen?»
Er hätte beinahe höflich zugestimmt, aber er war noch zu deprimiert. «Leider nein, Rabbi. Es hat mich überhaupt nicht berührt. Um ganz ehrlich mit Ihnen zu sein: Ich finde, es war leeres Gerede.»
Überraschenderweise war Mezzik keineswegs gekränkt. Ja, er lächelte sogar. «So geht es den Leuten häufig beim ersten Mal.»
«Was soll das heißen, beim ersten Mal?»
Mezzik richtete den Blick in die Ferne. Dann sah er den Arzt abwägend an. «Wenn Sie einen Patienten behandeln», fragte er ihn, «wenn Sie ihm ein Medikament geben – tritt die Heilung dann sofort ein?»
«Manchmal schon. In den meisten Fällen jedoch nicht unmittelbar danach.»
«Nun, so ist es auch mit religiösen Exerzitien. Manchmal kommt es zu einer großen plötzlichen Erkenntnis, zu einer Offenbarung, zu einer unvermittelten Klarheit, als hätte jemand in einem dunklen Zimmer das Licht angemacht. Manchmal dagegen braucht es ein bisschen Zeit. Und manchmal natürlich geschieht, genau wie bei Ihren Medikamenten, überhaupt nichts. Sie haben gebetet und meditiert. Ich habe Sie beobachtet, und ich glaube – ich habe einige Erfahrung in diesen Dingen –, dass Sie aufrichtig und ernsthaft gebetet haben. Glauben Sie mir, irgendetwas wird sich draus entwickeln. Vielleicht morgen, vielleicht nächste Woche, vielleicht sogar erst nächstes Jahr, aber irgendetwas kommt bestimmt.»
Auf dem Heimweg dachte Dan Cohen an Mezziks Worte, und sein Gesicht verzog sich zu einem ironischen Lächeln. Alles nur wieder der alte Unsinn. Die Quacksalber mit ihrer angeblichen Wundermedizin hatten vermutlich dieselben Argumente verwendet. Damit gewannen sie Zeit, außer Landes zu gehen, ehe der Zorn der Düpierten sie erreichte.
Endlich daheim. Kaum hatte er seinen Wagen geparkt, da rief seine Frau ihm auch schon zu: «Dan? Telefon! Chief Lanigan ist am Apparat.»
22
«Hallo, Dr. Cohen? … Mein Kreuz macht wieder mal Sperenzchen, aber diesmal ganz schlimm. Ich hab’s grade noch bis an den Schreibtisch zurück geschafft.»
«Das haben Sie schon öfter gehabt, nicht wahr?»
«Na ja, so einmal im Jahr muss ich damit rechnen. Normalerweise aber ist das nur so ein dumpfer Schmerz, als hätte ich hundert Pfund Blei an der Taille hängen. Diesmal dagegen ist es ein stechender Schmerz, und ich kam einfach nicht wieder hoch. Ich bin auf dem Revier. Zu Hause habe ich einen speziellen Gürtel, den ich anlege, wenn das passiert, aber so, wie ich jetzt bin, kann ich auf gar keinen Fall nach Hause fahren.»
«Dann werde ich schnell rüberkommen und Sie mir mal ansehen. Ich kann Sie wenigstens verschnüren.»
«Das wäre nett, Doktor. Ich weiß, dass ich’s eben aushalten muss, bis der Schmerz von selbst nachlässt, aber so schlimm hab ich’s noch nie gehabt.»
«Nun, vielleicht kann ich ihnen was dagegen geben. Ich bin in wenigen Minuten dort.»
Kurze Zeit später sah Dr. Cohen dem Polizeichef in das jammervoll verzerrte Gesicht und nickte verständnisvoll, als Lanigan erklärte: «Ich würde ja gar nichts sagen, wenn ich irgendwas Dummes gemacht hätte, Doktor, wenn ich etwa versucht hätte, einen Wagen aus dem Schnee zu schieben. Das hab ich einmal gemacht, und da hat sofort mein Rücken angefangen. Das war die Strafe, aber eine vergleichsweise milde. Jetzt dagegen habe ich mich einfach gebückt, um meine Akte in den Schrank zurückzulegen, und – Mann! Ich konnte mich nicht mehr rühren.»
Dr. Cohen nickte mitfühlend. «Der Schmerz verschwindet mit der Zeit, nicht wahr? Nach zwei bis drei Tagen?»
«Er wird erträglicher nach ein paar Tagen, aber gewöhnlich bleibt er etwa zwei Wochen. Bloß, so
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