Am Montag flog der Rabbi ab
älter.»
«Na ja, wenn sie sich eines Tages mal nicht so gut fühlt, können Sie ihr helfen. Sie können füreinander sorgen, jetzt, wo jede allein ist …»
«Ich würde mir lieber die Zunge abbeißen, bevor ich sie darum bitte.»
«Und wenn ich Ihnen das abnehme und es einfädele, dass sie ein paar Monate auf Besuch zu Ihnen kommt?»
«Ich sage ihnen, sie kommt nicht. Und sie vermietet ihre Wohnung auch nicht an Fremde. Sie ist so fanatisch, dass sie bei jedem misstrauisch wäre, ob er nicht ihr Geschirr für das Fleisch mit dem für die Milch durcheinander bringt …»
«Aber nehmen wir mal an, ich sorge dafür, dass sie ihre Wohnung an jemand vermietet, dem sie restlos vertrauen kann?», fragte Gittel. «Zum Beispiel an einen – Rabbi?»
9
Sie sind herzlich eingeladen, Rabbi und Mrs. Hugo Deutch kennen zu lernen und Rabbi und Mrs. David Small glückliche Reise zu wünschen, die zu einem längeren Besuch ins Heilige Land fahren. Am Sonntag, 28. Dezember, 16 bis 18 Uhr, im Tempel.
So lautete die Einladung, die an sämtliche Mitglieder der Gemeinde verschickt wurde. Malcolm Slotnik, der im Anzeigengeschäft und damit Experte für solche Sachen war, sollte den Text entwerfen und den Druckauftrag vergeben sowie den Versand veranlassen.
Als er seinen Entwurf dem Vorstand vorlegte, gab es natürlich Einwände.
Bert Raymond sagte: «Mensch, Mal, ich hatte mir was vorgestellt wie ‹… geben sich die Ehre, zu einem Empfang zu Ehren von … einzuladen›, du verstehst schon, etwas Förmliches.»
«Wo lebst du eigentlich, Bert? Das stammt doch aus dem Mittelalter. Heute macht man alles schlicht und zwanglos. Schickst du die Einladung in der altmodischen Tour ab, kreuzen die Leute womöglich im Frack oder so was auf.»
«Kann sein, du hast Recht, Mal», meinte Marty Drexler. «Aber du sagst kein Wort darüber, wer Rabbi Deutch ist. Könnte man nicht ungefähr so formulieren … ‹bla-bla, blabla, bla-bla unseren neuen Rabbi kennen zu lernen bla-blabla›.»
«Hm, aber dann könnten die Leute auf die Idee kommen, dass Rabbi Small für immer weggeht.»
«Na und?» Marty lächelte und sah Bert Raymond an.
«Dann gibt es ’nen Haufen Fragen, und wir müssen stundenlange Erklärungen vom Stapel lassen. Nimm nur Al Becker, er gehört zu den größten Gönnern des Rabbi. Und ich hab den Anzeigenauftrag für Becker Ford-Lincoln, also …»
«Ich verstehe, worauf du hinauswillst», sagte Raymond. «Übrigens habe ich gerade ein paar juristische Sachen für Meyer Paff übernommen, und bei dem weiß ich auch nicht, wie er reagieren würde.»
Stanley Agranat schlug vor, «unsern geliebten Rabbi» zu schreiben.
«Seit wann ist er unser geliebter Rabbi?»
«So sagt man doch immer.»
«Nur bei Beerdigungen.»
Sie standen am einen Ende des Saales, die zwei Rabbiner und ihre Frauen, und erwarteten die Ankunft der Gäste. Es war noch früh, und die Mitglieder vom Frauenverein waren noch emsig am Werk, stapelten Tassen und Untertassen, stellten Platten mit Keksen und aufgeschnittenem Kuchen hin und stritten über den richtigen Platz für die Blumenvasen und den übrigen Tischschmuck. Ab und zu fragte eine von ihnen die Frauen der Rabbis nach ihrer Meinung, teils weil sie dank ihrer Position die oberste Autorität darstellten, und teils nur, um unter diesem Vorwand mit der neuen Rabbitzin reden zu können.
Die wenigen anwesenden Mitglieder des Vorstands standen abseits von den geschäftigen Frauen in einer kleinen Gruppe zusammen und äugten gelegentlich zu den beiden Rabbis hinüber, die man, in der Annahme, sie hätten berufliche Fragen zu erörtern, sich selbst überlassen hatte. Der Unterschied zwischen den zwei Männern drängte sich unwillkürlich auf. Während Rabbi Small mittelgroß, mager und blass war, hielt sich der hoch gewachsene, breitschultrige, rotbackige Rabbi Deutch auffallend gerade. Zudem war er ein gut aussehender Mann; hohe Stirn, darüber weißes Haar, das von dem schwarzseidenen Käppchen, der Jarmulke , noch hervorgehoben wurde. Er hatte eine Adlernase, und der ausdrucksvolle Mund wurde von einem eisengrauen imposanten Schnurrbart beschattet. Seine tiefe Baritonstimme hatte den gemessenen Tonfall des berufsmäßigen Redners, ungleich der von Rabbi Small, die selbst bei der Predigt klanglos und sachlich war. Keines der Vorstandsmitglieder artikulierte das Ergebnis dieses Vergleichs, das jedoch in ihrer begeisterten Zustimmung zu Bert Raymonds Bemerkung deutlich wurde: «Keine Frage, er
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