Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Montag flog der Rabbi ab

Am Montag flog der Rabbi ab

Titel: Am Montag flog der Rabbi ab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Kemelman
Vom Netzwerk:
und russischen Kaufmanns aus dem achtzehnten Jahrhundert; vermutlich trug sich Baal Schem Tow, der Stifter des Chassidismus, in jener Zeit so, und sie eifern darin dem rebbe nach. Ich nehme an, die amischen Mennoniten in Pennsylvania tun dasselbe und aus dem gleichen Grund. Wir neigen dazu, Kleidung mit Geisteshaltung zu assoziieren. Vielleicht sind die Leute heutzutage aus ebendiesem Grund gegen den legeren modischen Aufzug der Jugend; in ihren Augen weist das auf Rebellion hin und auf einen Bruch mit dem Herkömmlichen nicht nur in der Kleidung, sondern auch in den tradierten Moralbegriffen und Wertvorstellungen.»
    «Bei den Alten stört’s mich nicht», meinte Miriam, «aber die Jungen – dass die derart an der Tradition festhalten … Der da drüben, er kann doch nicht älter als dreizehn oder höchstens vierzehn sein.»
    Der Rabbi folgte ihrem Blick. «Das ist vielleicht ein Dandy, was? Das schtrajml – Nerz, nicht wahr? – muss seine Familie ein Vermögen gekostet haben.» In seiner Stimme lag ein melancholischer Unterton. «Ein trauriges Paradoxon. Während sie einerseits so strikt an der Kleidung festhalten, haben sie sich weitgehend vom Geist der Bewegung entfernt. Der Chassidismus war ursprünglich eine Art von romantischem Mystizismus, voller Freude und Lachen, voller Singen und Tanzen, der sozusagen die direkte Begegnung mit Gott einschloss. Eine nützliche und notwendige Reaktion auf die peinlich genaue Einhaltung der religiösen Vorschriften, die für die damalige Zeit typisch war. Aber heute hat sich der Kreis geschlossen, und die Chassidim sind die größten Pedanten, was ihr striktes Festhalten am Buchstaben des Gesetzes betrifft.»
    Im Park spielten Jungen im Alter von zehn bis zwanzig und darüber Fußball. Die Mannschaften waren aufs Geratewohl ausgesucht; der lebhafte Spielverlauf brachte zahlreiche Zusammenstöße mit sich, bei denen aber anscheinend niemand zu Schaden kam.
    Die Smalls setzten sich auf eine Bank und schauten zu. Andere saßen im Gras am Rand des improvisierten Spielfeldes, und obwohl der Ball hin und wieder über ihre Köpfe hinwegflog oder die Spieler an ihnen vorbeirasten, um ihn zu holen, störte sich offenbar niemand daran.
    Sie saßen auf der Parkbank im hellen Sonnenschein und hatten keine Lust, weiterzugehen. Jonathan war nach ein paar Minuten abgezogen und sah einer Gruppe von kleineren Jungen zu, die mit einem leichteren Ball spielten. Einmal flog er ihm vor die Füße. «Kick ihn zurück!», schrie eins der Kinder auf Hebräisch. Er verstand nicht, stieß ihn aber automatisch an und sah überrascht und begeistert, wie er ein Stück weit in hohem Bogen flog. Teils hingerissen von seiner Heldentat, teils etwas ängstlich, weil er ihn womöglich zu weit gestoßen hatte, rannte er zu seinen Eltern. «Ich hab ihn gekickt!», schrie er. «Habt ihr gesehen? Habt ihr gesehen, wie ich den Ball gekickt hab?»
    Seine Mutter umarmte ihn.
    «Ein schöner Stoß», sagte der Rabbi. «Wenn du wieder hingehst, kannst du ihn vielleicht nochmal kicken, oder sie lassen dich mitspielen.»
    «David!», rief Miriam. «Die Jungen sind zwei oder drei Jahre älter als Jonathan. Er wird sich wehtun.»
    «Ach, ich weiß nicht. Es scheint doch keiner zu Schaden zu kommen. Und offenbar gibt’s auch keine Rauferei unter den Kindern. Sieh dich doch um.»
    Doch Jonathan wollte kein Risiko eingehen und kuschelte sich an seine Mutter. Die Mittagsstunde nahte, und die Spiele wurden beendet. Auch die Smalls brachen auf und behielten die gemächliche Gangart bei, die so gut zu dem ganzen Tag zu passen schien.
    «Das ist der erste Sabbat seit langem, an dem du nicht in der Synagoge gewesen bist, David», sagte Miriam, als sie sich ihrem Haus näherten.
    «Stimmt, aber mir ist nicht, als hätte ich etwas versäumt», entgegnete er. «Ich bin immer gegangen, nicht nur, weil man es von mir als Rabbi und davor als Student auf dem Seminar und davor als Sohn eines Rabbiners erwartete, sondern weil ich von jeher das Gefühl hatte, auf diese Weise die Woche durch den Sabbat zu krönen. Ich zog mich etwas anders an und ging so rechtzeitig zum Tempel, dass ich mich nicht zu beeilen brauchte. Und genauso war es beim Rückweg; ich wusste ja, es wartete keine dringende Arbeit auf mich. Vermutlich tat ich das alles in dem Bestreben, den Sabbat zu etablieren und ihn zugleich zu feiern. Nun, und hier musst du den Sabbat nicht erst etablieren. Du hast es nicht nötig, mit ihm deine Wochenarbeit zu krönen. Das wird

Weitere Kostenlose Bücher