Am Montag flog der Rabbi ab
und die Inhaber hatten es ebenfalls eilig. An einer Ecke war ein Blumenstand, der noch verkaufte. Doch auch hier war der Besitzer bestrebt, die drei oder vier ungeduldig wartenden Kunden schnell abzufertigen. Der Rabbi stellte sich dazu und kaufte einen Strauß Nelken. Dann machte er sich gleichfalls schleunigst auf den Heimweg.
Miriam und Jonathan begrüßten ihn; Gittel war bereits gegangen. «Uri bekommt meistens zum Wochenende Urlaub», erklärte Miriam. «Natürlich möchte sie zu Hause sein, um ihn zu empfangen. Ich schlug vor, sie solle versuchen, ihn über die Leute von der Armee zu benachrichtigen, dass er nach Jerusalem statt nach Tel Aviv fährt. Aber das konnte vermutlich nicht einmal Gittel zuwege bringen.»
«Hat sie es versucht?», erkundigte sich der Rabbi.
«Nein. Ich nehme an, sie hält es für unpatriotisch, die Armee mit unwichtigen Bitten zu behelligen. Hierzulande ist die Armee sozusagen sakrosankt.»
«Muss sie wohl, wenn Gittel nicht einmal den Versuch gemacht hat», meinte er trocken.
«Aber sie ist eine gute Seele, David.»
Er schien überrascht. «Selbstverständlich. Ich finde sie großartig. Ihre Betriebsamkeit macht mir nichts aus. Sie stammt aus einer langen Reihe matriarchalischer Gestalten – von Debora bis Golda. Bei uns ist das eine Tradition. Im stetl hatten die Frauen das Heft in der Hand, während die Männer studierten.» Er lächelte. «Du hast auch ein bisschen was davon. Es tut mir nur Leid, dass Gittel nicht mit uns zusammen unseren ersten Sabbat in Israel feiert.» Er gab ihr die Blumen und küsste sie. «Alles Gute zum Sabbat.»
Er wollte fragen, ob sie die Nachricht gehört habe, aber Jonathan kam ins Zimmer. «Ich war in der Schule, Daddy, und geh jetzt jeden Tag hin – mit Shauli von oben.»
«Das ist aber fein, Jonathan.» Er streichelte ihm zärtlich über das Haar. «Und wie hat’s dir in der Schule gefallen?»
«Ach, ganz gut soweit.» Dann aufgeregt: «Du, die Kinder hier können nicht richtig Ball werfen. Sie stoßen ihn. Mit den Füßen.»
«Das finde ich wirklich interessant.» Er wollte mehr sagen. Er wollte seinen Sohn nach der Schule fragen. Er wollte Miriam fragen, wie sie den Tag verbracht habe. Aber er konnte es nicht; er war zu müde.
«Ich bin durch die ganze Stadt gelaufen», begann er zu erklären.
«Warum legst du dich nicht ein Weilchen hin und schläfst, David? Ich hab das gemacht und fühlte mich hinterher wie neugeboren.»
«Ja, ich glaube, das tue ich.» Er zögerte. «Hast du gehört von …»
Sie drehte sich rasch um, ob Jonathan außer Hörweite war. «Ja, aber wir wollen jetzt nicht darüber reden. Leg dich hin.»
Er hatte kaum die Schuhe ausgezogen, als er auch schon eingeschlafen war. Es schienen nur ein paar Minuten vergangen zu sein, als Miriam ihn weckte. «Steh jetzt besser auf, David. Es ist unser erster Sabbat in Israel, und ich glaube, wir sollten zusammen essen. Außerdem möchte ich nicht, dass Jonathan zu lange aufbleibt.»
Er fuhr hoch. «Wie spät ist es?»
«Sieben.»
«Aber der Gottesdienst ist doch jetzt schon vorbei.»
«Ich hatte nicht das Herz, dich zu wecken. Du hast so tief geschlafen. Der lange Flug. Und der Zeitunterschied.»
Er stand auf und besprengte sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Als er ins Esszimmer kam und den gedeckten Tisch mit den brennenden Kerzen und der Vase mit seinen Blumen in der Mitte sah, fühlte er sich erfrischt. Er setzte sich ans Kopfende der Tafel und schenkte den Kiddusch -Becher ein.
Dann erhob er sich und begann das alte Gebet: «Am sechsten Tag …»
14
Vom Tag seiner Ankunft in Barnard’s Crossing an hatte Rabbi Deutch eine Reihe von Besprechungen mit Kantor Zimbler und Henry Selig gehabt, dem Vorsitzenden der Ritualkommission. Der Gemeindevorsteher hatte ihn für diesen wichtigen Posten vor allem wegen der Geschwindigkeit benannt, mit der er die Gebete las. Bert Raymond war zum Minjan gegangen, um das Kaddisch zum Todestag seines Vaters zu sprechen, und hatte dabei Selig bemerkt. «Er ist der Erste, der sich beim Schemone essre wieder hinsetzt. Als ich ihn das erste Mal beobachtete, dachte ich, er lässt was aus, genau wie ich. Aber dann hab ich neben ihm gesessen, und er liest das Ganze tatsächlich. Seine Lippen beben förmlich. Er muss es auswendig können.»
Das stimmte; Henry Selig konnte die täglichen Gebete auswendig, und darauf beschränkte sich seine Kenntnis des jüdischen Rituals. Daher erhob er keine Einwände gegen die Pläne von Rabbi Deutch.
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