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Am Montag flog der Rabbi ab

Am Montag flog der Rabbi ab

Titel: Am Montag flog der Rabbi ab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Kemelman
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Bei dem Kantor war es schon schwieriger. Er war völlig einverstanden mit jedem Vorschlag, durch den sich sein Anteil am Gottesdienst erweiterte, doch wenn Rabbi Deutch auf ein besonderes Gebet verzichten wollte, insbesondere wenn es eine ausgedehnte musikalische Wiedergabe verlangte, jammerte er: «Aber Rabbi, dieses Gebet ist entscheidend für die Stimmung während des ganzen Gottesdienstes.» Manchmal veranlassten ihn auch rein persönliche Gründe zu seinen flehentlichen Bitten: «Hier singe ich den ersten Teil Falsett, den nächsten mit normaler Stimme, dann wieder Falsett und nochmal mit normaler Stimme. Genau wie ein Duett, die Leute sind ganz wild drauf. Es ist kein Freitagabend vergangen, wo nicht jemand hinterher zu mir gekommen ist und mir gerade zu diesem Gebet ein Kompliment gemacht hat.»
    Doch Rabbi Deutch wusste, was er wollte, und verfügte über eine langjährige Erfahrung im Umgang mit leicht erregbaren Kantoren. «Hören Sie zu, Kantor, es gibt eine Regel, wie man den Gottesdienst am Freitagabend erfolgreich abwickelt, und die lautet – mach’s kurz und schwungvoll. Vergessen Sie nicht, die Sache wiederholt sich allwöchentlich. Wenn sich der Gottesdienst in die Länge zieht, wird die Gemeinde müde, und was geschieht als Erstes – die Leute kommen nicht mehr. Er muss weniger als eine Stunde dauern. Vergessen Sie nicht, sie haben zu Abend gegessen und wollen sich entspannen. Also hören sie Sie ein bisschen singen und singen selber ein bisschen. Wir haben ein paar Wechselgesänge, mit denen wir ihnen ein Gefühl für die Feierlichkeit des Sabbat vermitteln. Ich halte eine kurze Predigt. Das Amida ist ein kleines Zwischenspiel, bei dem sie mal aufstehen und die Beine etwas strecken können. Und dann schließen wir mit einem schwungvollen Adon Olam , und die Leute gehen ins Vestibül zu Tee und Kuchen und plaudern miteinander. So ist’s eine nette Abendunterhaltung, und Sie werden sehen, die Besucherzahl wird von Woche zu Woche steigen.»
    Rabbi Deutch hatte noch weitere Ideen zur Verbesserung des Gottesdienstes, und an seinem ersten Freitagabend gelang es ihm, sie alle zu verwirklichen. Als die Gemeindemitglieder ihre Plätze einnahmen, stellten sie fest, dass die thronartigen Sessel auf der Estrade zu beiden Seiten der Bundeslade, wo normalerweise der Rabbi und der Kantor sitzen, leer waren. Der Gottesdienst sollte um acht Uhr beginnen, und eine Viertelstunde vorher waren bereits alle versammelt, die den neuen Rabbi unbedingt in Aktion sehen wollten. Doch die Plätze auf der Estrade blieben leer.
    Die Orgel hatte den Einzug der Gemeinde musikalisch untermalt – getragene, schwermütige Klänge in Moll, die jedoch zehn Minuten vor acht plötzlich zu brausenden Dur-Akkorden anschwollen, als die Tür zum Ankleideraum sich öffnete und der Rabbi erschien – im eindrucksvollen schwarzen Gewand mit seidenem Gebetsschal und einer hohen Jarmulke aus Samt, ähnlich der eines Kantors, auf dem Kopf. Er hielt kurz inne und schritt dann langsam die Stufen zur Estrade empor und stand vor der Bundeslade, den Rücken der Gemeinde zugekehrt. So verharrte er ein bis zwei Minuten, den Kopf leicht geneigt, richtete sich dann auf und ging zu seinem Platz neben der heiligen Lade.
    Nachdem er sich gesetzt hatte, sah er mit unbeteiligtem Gesicht über die Gemeinde hin, und das vereinzelte Geflüster verstummte, als sie seinen Blick auf sich verweilen fühlten. Zwei Minuten vor acht erhob er sich und schritt zum Pult. Er schaute die Gemeinde nicht direkt an, sondern hatte sich etwas umgedreht, der Tür des Ankleideraums zu. Wartend stand er da, und Punkt acht öffnete sie sich abermals, der Kantor erschien und begann von der Schwelle aus ma-towju zu singen – Wie schön sind deine Zelte, Jakob! Dabei stieg er langsam die Stufen zur Estrade empor, während der Rabbi unbeweglich verharrte und ihn ansah. Der Gesang endete genau in der Sekunde, in der er am Pult anlangte. Erst jetzt zog sich der Rabbi auf seinen Platz neben der Bundeslade zurück.
    Nun sang der Kantor l’cha dodi , und die Gemeinde stimmte in den Refrain ein. Anschließend trat der Rabbi vor und verkündete mit seinem tiefen Bariton: «Wir lesen jetzt abwechselnd den Psalm auf Seite zwölf in Ihren Gebetbüchern.» Er las den ersten Vers und dann gemeinsam mit der Gemeinde den nächsten, wobei seine klangvolle Stimme deren Gemurmel übertönte.
    Der Gottesdienst war in der Tat kurz und schwungvoll. Die Predigt dauerte nur fünfzehn Minuten. An keiner

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