Am Montag flog der Rabbi ab
Stelle wurde eine Verschleppung geduldet. Die Gemeinde erfreute sich am Gesang des Kantors, weil er nicht im Übermaß geboten wurde. Ihr eigener Anteil, der sich vorwiegend auf das wechselweise Lesen beschränkte und bei dem der Rabbi die halbe Arbeit tat, vermittelte ihnen das angenehme Gefühl, beteiligt zu sein, und war dennoch nicht beschwerlich; und die Amida war fast eine Erholungspause, weil sie im Stehen gesprochen wurde.
Natürlich gab es Einwände. Einige der älteren Gemeindemitglieder waren nicht unbedingt erbaut von dem schwarzen Gewand, das der Rabbi gewählt hatte und das sie an Priester und Pfarrer erinnerte. Und außerdem waren die Präliminarien in ihren Augen zu dramatisch und wirkten daher theatralisch und gekünstelt. Doch die meisten äußerten sich anerkennend.
«Na, bitte, und welches ist die dauerhafteste religiöse Organisation der Welt? Die katholische Kirche, hab ich Recht? Und womit arbeitet sie, wenn nicht mit Dramatik und Zeremoniell? Das ist ihr Betriebskapital. Sie weiß genau, was die Leute Woche um Woche wiederkommen lässt – eine gute Vorstellung, ein eindrucksvolles Schauspiel, und das bietet sie ihnen.»
Dieselben Abweichler mäkelten auch an der Predigt herum. «Also für mich hat er überhaupt nichts gesagt.»
«Ja, aber er hat dafür keine vierzig Minuten gebraucht.»
Doch selbst die stärksten Gegner mussten zugeben, dass der Gottesdienst sich durch strikte Ordnung und Befolgung des Rituals auszeichnete – das Schibbolet des konservativen Judentums.
Die überwiegende Mehrheit aber fand den Gottesdienst wunderbar und legte Wert darauf, zum Rabbi zu gehen und ihm das mitzuteilen.
«Wirklich, Rabbi, es hat mir sehr zugesagt. Früher bin ich am Freitagabend nicht oft in die Synagoge gegangen. Aber von jetzt ab sehen Sie mich jede Woche.»
«Ihre Predigt, Rabbi, also auf die hab ich angesprochen, Sie verstehen schon. Darüber werde ich noch lange nachdenken.»
«Wissen Sie, Rabbi, heute Abend hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, ich nehme an etwas – na ja – an etwas Heiligem teil. Anders kann ich’s nicht sagen.»
«Bei mir dasselbe, Rabbi. Das war der beste Sabbat, an den ich mich erinnern kann.»
Bert Raymond, der neben Rabbi Deutch stand, strahlte.
15
Die Nachwirkungen der Reise waren noch nicht vorüber, und die Smalls schliefen lange – sogar Jonathan. Sie erwachten, als ihnen die helle Sonne direkt ins Gesicht schien; es war nach zehn Uhr und zu spät, um in die Synagoge zu gehen.
Miriam war zerknirscht. «Ich weiß, du wolltest an deinem ersten Sabbat in Jerusalem in die Synagoge gehen.»
«Das hatte ich vor», sagte er leichthin, «aber es kommen ja noch andere Sabbats. Wollen wir nicht spazieren gehen? An der King George Street ist ein Park.»
Auf dem Weg durch die Straßen wurde ihnen klar, dass sie etwas Neues erlebten – eine ganze Stadt, die den Sabbat einhielt. Sämtliche Geschäfte waren geschlossen – das war zu erwarten –, aber es war mehr als das. Es verkehrten keine Omnibusse, und auf den Straßen fuhren fast keine Autos. Die Verkehrsampeln waren auf das gelbe Blinklicht geschaltet, statt auf Rot und Grün abwechselnd. Und die Menschen schlenderten genauso wie sie durch die Straßen; Männer mit ihren Frauen und Kindern in Feiertagskleidung gingen zu dritt und zu viert nebeneinander, ohne bestimmtes Ziel, nur das schöne Wetter genießend.
Andere wiederum, die aus der Synagoge kamen, strebten nun nach Hause; manche hatten noch den Gebetsschal um die Schultern gelegt, um ihn nicht tragen zu müssen, was natürlich eine Art Arbeit und somit ein Verstoß gegen den Sabbat wäre. Hin und wieder sahen sie einen Chassid im Sabbatstaat, statt des breitrandigen Filzhutes eine mit Pelz verbrämte Galamütze, das schtrajml , auf dem Kopf, bis knapp unters Knie reichende Bundhosen und dazu weiße Strümpfe. Manche waren in das lange schwarze Seidengewand mit Schärpe gehüllt. Andere, meistenteils Jüngere, bevorzugten einen Gehrock, den sie der Wärme wegen offen ließen; dadurch waren die Schaufäden des Tallit katan zu sehen, des kleinen viereckigen Gebetstuches, das sie ständig unter der Kleidung trugen. Um die Taille hatten sie die gestickten Gürtel, die sie zum Beten anlegten und die zur Trennung der unteren, mehr weltlichen Körperpartien von den oberen, mehr geistigen, dienten.
«Warum kleiden sie sich so, David?», fragte Miriam.
Er grinste. «Genau genommen, purer Konservativismus. Das ist der Anzug des wohlhabenden polnischen
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