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Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Titel: Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Vollkommer
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Indianerdecken, die Heilige Familie in Tierfelle eingepackt.
    Für einen kurzen Moment war dieser Ort nicht mehr Coppermine am nördlichsten Rand der bekannten Welt, es war Bethlehem in Judäa. Das größte Ereignis der Weltgeschichte vereinte Herzen über Jahrhunderte, über riesige Landflächen und unüberbrückbare kulturelle Trennungen hinweg.
    Nach Momenten der ehrfurchtsvollen Stille brach das Chaos in der Kirche aus. Jeder wollte jedem anderen auf Englisch »Frohe Weihnachten« wünschen, ein »Merry Christmas«, das eher wie »Melly Kolaisimas« klang. Nach dem Gottesdienst, den Begrüßungen und dem Festessen gab es Spiele und Schlittenwettrennen. Mit einem Hundegespann raste jede Familie über das schneebedeckte Eis zu einer nahe gelegenen Insel, die im Sommer unerreichbar gewesen wäre, und wieder zurück ins Dorf, von einem begeisterten Publikum angefeuert. Die Hudson Bay Company stellte Preise für die Gewinner zur Verfügung, danach gab es »Square Dancing« im kleinen Schulgebäude.
    Später behielten die Sperrys diese Feste als die besten in Erinnerung, die sie jemals erlebt hatten. Jack schrieb dies unter anderem dem Alkoholverbot zu, das damals in den nördlichen Gebieten herrschte. Was heute als unverschämte Bevormundung gelten würde, war nicht nur die Garantie für eine Kriminalitätsrate, die auf Null blieb, sondern auch für die Fähigkeit, ohne Zwischenfälle ausgelassen zu feiern.
    »Ich blickte um mich und sah die gezeichneten, runzeligen Gesichter der alten Leute, die in einer Welt voller Angst und Ungewissheit aufgewachsen waren. In dieser fröhlichen Runde strahlten sie geradezu vor Freude und Hoffnung«, erinnerte sich Jack in seinem Weihnachtsbrief an Freunde. »Es schien mir, als ob die überwältigende Liebe, die beim ersten Weihnachten auf die Erde kam, mir in der vollen Kirche aus jedem Gesicht entgegenstrahlte. Ich sprach ein tiefes, stilles Dankgebet und dachte daran, dass sich keiner dieser Einheimischen beklagen würde, dass das Evangelium von Jesus Christus in diesem Teil der gefrorenen Welt verkündet wurde. Ohne eine einzige Spur von Reue fühlte ich mich gleichzeitig stolz und auch unverdient geehrt, die Weihnachtsbotschaft gerade hier verkünden zu dürfen.«
    Viele Jahre später, als die Kinder erwachsen waren, die zu dieser Zeit noch Hirten und Engel beim Heiligabendgottesdienst spielten, hatte Jack einen Teil seines Traums erfüllt. Lange, nachdem er und Betty weitergezogen waren, sang die Versammlung in der inzwischen nicht mehr so kleinen Coppermine-Kirche aus voller Kehle:
    »Unuak naguyak
Talvani nunami
Uilagahuk nutaganikpaktuk
Angutinuak ataniuyuk
Negiyutikagvingmi-ituk
Anilihaktuk Jesus.«
    (Stille Nacht, Heilige Nacht,
Alles schläft, einsam wacht
Nur das traute, hochheilige Paar,
Holder Knabe in lockigem Haar.
Schlaf in himmlischer Ruh,
Schlaf in himmlischer Ruh.)

Jäger braucht man
    »In himmlischer Ruhe« schlafen zu dürfen gehörte bei den Copper-Inuit nicht zu den üblichen Wünschen für Neugeborene. Dass vor allem den älteren Frauen bei diesem Satz Tränen in den Augen standen, lag nicht etwa daran, dass Eskimofrauen besonders emotional veranlagt waren. Die größte Leistung eines Mädchens in den alten Zeiten war, die ersten Wochen nach seiner Geburt zu überleben. Nicht nur aufgrund der primitiven Bedingungen, unter denen Frauen ihre Kinder auf die Welt bringen mussten. Sippen, deren Fortbestand vom Geschick ihrer Jäger abhängig war, brauchten vor allem eins: männlichen Nachwuchs. Gab es zu viele Mädchen, wurden neugeborene weibliche Babys ohne viel Aufhebens ihrem Schicksal überlassen. Sie zu töten, war kein Problem bei diesen Außentemperaturen, man setzte sie einfach aus. Eine unfassbare Widersprüchlichkeit in einer Kultur, die sonst so kinderlieb war. Das Stillen eines vermeintlich unnützen Kindes hemmte nämlich die Gebärfähigkeit der Mutter und zögerte die Ankunft eines begehrten Jungen noch weiter hinaus. Als Jack in der Arktis ankam, war dieser Brauch allerdings schon Vergangenheit. Die kanadische Regierung hatte die Inuit als Bürger Kanadas mit allen Rechten und Pflichten anerkannt, und zu diesen Rechten gehörte Kindergeld. Auch ein Iglu voll Mädchen brachte nun handfesten Gewinn.
    Etwas anderes erlebte Jack sehr wohl mit: Als unproduktiv geltendes Leben hatte in dieser rauen Kultur keinen Platz. Dies bekamen alte Menschen besonders stark zu spüren. Man half ihnen mit geradezu nüchternem Kalkül, ihrer Existenz ein Ende zu

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