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Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Titel: Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Vollkommer
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seinen Schoß.
    »Bist du wieder neugierig, Kleines? Warst doch die ganze Zeit bei deinem Dad in den letzten Tagen! Hat er noch nicht alle Fragen beantwortet?«
    »Doch, hat er. Aber ich habe immer neue Fragen, Ikey, und jetzt musst du antworten, weil Dad zu tun hat. Erzählst du mir eine Geschichte?«
    »Alles, was ich dir erzähle, sind Geschichten, Angela, wahre Geschichten. Nehmen wir Kuviahugvik zum Beispiel. Lange, bevor die Missionare kamen und wir von Jesus hörten, hieß das Wort ›Eine Zeit der Glückseligkeit‹. Im Frühling, als die Tage milder wurden, kamen die Menschen von überallher zusammen und tanzten um ihre Trommel herum, um das Ende des Winters zu feiern. Als die Missionare kamen, haben sie uns vom Kommen von Jesus erzählt, und so haben wir unser Kuviahugvik vorgezogen und feiern es mitten im Winter.«
    Ikey redete Englisch mit der kleinen Angela. Betty bestand darauf, weil ihre Kinder automatisch genug Inuinaktun von ihren Spielkameraden lernten. Nachdem manch ein Missionarssprössling infolge einer Kindheit im tiefsten Busch in seinem Heimatland kommunikationsunfähig war, empfahlen die Missionsgesellschaften, die Muttersprache familienintern aufrechtzuerhalten.
    Ikey fuhr mit seinen Erläuterungen fort: »Von den Missionaren erfuhren wir außerdem, warum dies eine ›Zeit der Glückseligkeit‹ ist, auch wenn alles um uns herum dunkel und eiskalt ist.«
    »Es ist eine glückliche Zeit, weil Jesus Geburtstag hat!«, wusste die kleine Angela zu ergänzen.
    »Richtig, Angela! Anstatt um Trommeln herumzutanzen, danken wir nun Jesus dafür, dass er auf die Erde kam. Er ist so anders als die bösen Geister, die unsere Vorfahren gefürchtet haben.«
    »Und deshalb kommen die Leute von überallher, um den Geburtstag von Jesus zu feiern?«
    »Ja, aber nicht nur deshalb. Bevor wir Gewehre hatten, war zum Beispiel der Dezember die Zeit, in der wir Robben gejagt haben. Das gab uns noch einen Grund zu feiern.«
    »Mit Speer und Harpune! Johnny spielt Jagen mit seiner kleinen Harpune!«
    »Es war viel anstrengender als Johnnys Spiele«, lachte Ikey. »Die Robben spielen und schwimmen fröhlich unter dem gefrorenen Eis, aber da sie keine Fische sind …« Er schaute Angela mit fragendem Blick an.
    »Brauchen sie Luft und müssen hochkommen!«, ergänzte das kleine Mädchen stolz.
    »Und dafür machen sie kleine Löcher ins Eis. Die Hunde riechen Robben aus großen Entfernungen und führen die Jäger zu den Löchern, wo sie manchmal stundenlang warten, bis eine Robbe ihre Nase durch das Loch steckt, und dann …«
    »Oh, lieber nicht, Ikey.«
    »Na ja, lassen wir den gruseligen Teil. Auf jeden Fall waren alle dankbar, dass es Fleisch für den Esstisch, Futter für die Hunde und Fett für die Kudliks gab.«
    Auch noch lange nachdem die Jagd mit Speer und Harpune der Vergangenheit angehörte und die lebensnotwendigen Robben einfacher und humaner mit einem Schuss getötet wurden, gab es in Coppermine Gründe, diese Jahreszeit zu einem Höhepunkt werden zu lassen. Dezember war nämlich die Zeit, in der die Pelze der Polarfüchse verkauft wurden. Sie erreichten Anfang November ihre optimale Dichte und Qualität, Fallen wurden aufgestellt, danach wurden die Tiere getötet und die Felle bearbeitet. Polarfuchspelz war bei den großen Modehäusern im Westen ein gesuchtes Produkt, weil er gefärbt und in verschiedenen Farbtönen angeboten werden konnte. Es war ein glücklicher Zufall, dass die Jäger immer um Weihnachten herum ihre ersten Ladungen nach Coppermine brachten. Auch Karibuhäute wurden auf schwer beladenen Schlitten in die Handelsstation geschleppt.
    So verdreifachte sich die Bevölkerung Coppermines bis Mitte Dezember, und das Dorf verwandelte sich für eine kurze Zeit in eine von Leben wimmelnde Metropole. Eintreffende Familien sprangen aufeinander zu und gaben sich freudig die Hand. Babys steckten ihre Köpfe aus den Kapuzen ihrer Mütter und verlangten nach einem Kuss. Rufe nach heißem Tee hallten rund um die Uhr durch das Dorf. Eine Siedlung provisorischer Iglus schoss auf dem tiefgefrorenen Meereseis empor. Gastfreundschaft in der Arktis war eine aufwändige Angelegenheit. Wenn man Freunde zu sich einladen wollte, durfte man nicht vergessen, dass an jeder Familie eine ganze Staffel Hunde hing. So waren zu Weihnachten Hunderte von Hunden am Ufer entlang und auf dem gefrorenen Meer festgebunden, jedes ankommende Gespann begrüßten Coppermines Hunde mit einem ungeheuren Gejaule kollektiver

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