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Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Titel: Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Vollkommer
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Liebesdienst, erforderte doch eine »echte« Zahnbehandlung eine lange Reise nach Süden, die sich keiner leisten konnte. Jack löste die meisten Probleme dadurch, dass er den problematischen Zahn einfach zog. Auch keine leichte Aufgabe, da sich diese Zähne meistens im hinteren Bereich des Kiefers befanden, und die Eskimos besonders kräftige Kieferknochen hatten, weil sie täglich zähes Fleisch kauten. Manch eine verzweifelte Schwester in der Krankenstation sandte einen Zahnpatienten direkt zum Minihitak in die Küche, weil das Zähneziehen nicht nur medizinischen, sondern auch rein körperlichen Einsatz erforderte.
    »Nachdem du alle geschädigte Zähne entfernt hast, werden die Leute vermutlich noch mehr Hunger haben«, scherzte Betty. »200 Leute erwarten wir zum Mittagessen. Ich lass euch mit den Geschenken allein und schaue nach dem Gebäck.«
    Seit Tagen schon stand sie in der Küche, ihre Arme bis zu den Ellbogen im Mehl, und backte endlose Reihen von Scones, kleine englische Kuchen, die in der Heimat mit Butter und Erdbeermarmelade gegessen wurden. Das gigantische Essen folgte immer dem gleichen Prozedere: Ein riesiger »Hundetopf«, der größte Topf im Dorf, wurde geholt. Dieses Gefäß verwendete man sonst für eine Mahlzeit aus Konserven, die die Hunde als Sonderdelikatesse gelegentlich bekamen. Der Topf wurde gründlich gereinigt und danach mit einer riesigen Menge gekochtem Reis gefüllt. Rosinen wurden daruntergemischt. Zum Nachtisch gab es die Scones und Obst aus der Konserve, meistens Backpflaumen. Riesige Fässer voller Tee wurden gekocht, um das Ganze herunterzuspülen.
    »Wo ist das Fleisch?«, hatte Alfred bestürzt gefragt, als er in Jacks und Bettys erste Weihnachtsvorbereitungen eingespannt wurde. Jack schaute ihn verwundert an.
    »Es gibt doch Reis mit Rosinen. Die Leute werden sich vermutlich freuen, wenn sie zur Abwechslung was ganz anderes zu essen bekommen, etwas Festliches«, sagte Jack ahnungslos.
    Alfred lachte laut.
    »Das darfst du ihnen nicht antun, Mr Sperry! Sie werden nach ihrem Fleisch verlangen, Reis und Rosinen hin oder her!«
    So kam zu allem anderen noch die Aufgabe, gefrorenen Fisch und vereistes Karibufleisch in Steaks zu schneiden, damit alle sich wohlfühlten.
    Bei diesem Empfang und in dieser Feststimmung war es nicht verwunderlich, dass sich die Menschen sehr gerne in der kleinen Kirche versammelten, um die uralte Geschichte von der Geburt von Jesus zu hören, über die Verkündigung der Engel zu staunen und dem Herrn Jesus, der vor so vielen Jahrhunderten auf diese Erde kam, Loblieder zu singen.
    Die Heiligabendmesse war der Höhepunkt der Festtage. Nicht dabei zu sein, wäre undenkbar gewesen. Dieses Jahr war der Heiligabend eine glasklare, eiskalte und von Sternen beleuchtete Nacht. Die Menschen strömten in andächtiger Stille in die kleine Kirche, die bald gerammelt voll war, und warteten in gespannter Vorfreude auf die Weihnachtsbotschaft.
    »Dies ist kein religiöses Ritual, das wir abziehen, um Gunst bei den Geistern zu finden«, erzählte Jack von der Kanzel mit leuchtenden Augen. »Wir feiern die Tatsache, dass Gott, unser Schöpfer, direkt in unseren Alltag kam, dorthin, wo wir uns freuen, leiden oder ungerecht behandelt werden. Er kam nicht, um von angsterfüllten Menschen milde gestimmt zu werden, sondern um Licht in unsere Dunkelheit zu bringen, um uns zu zeigen, dass er uns nicht vergessen hat. Das ist Weihnachten!«
    Er warf einen strengen Blick zu John, der seine Mutter zum dritten Mal fragte, dieses Mal nicht mehr flüsternd: »Wann ist Dad endlich fertig?«
    »Unsere Freude ist die Freude des Evangeliums, nicht weil eine neue Handelssaison anfängt oder weil Jagdeuphorie herrscht! Und weil mein Sohn jetzt genug hat, aber auch, weil wir noch singen und beten wollen, bleibt mir nur übrig, euch frohe Weihnachten zu wünschen und viel Spaß beim Feiern!«
    In keine Umgebung der Welt passte das Lied »Stille Nacht« mehr als in diese. Danach sang die Gemeinde »Herbei, oh ihr Gläubigen«, alles auf Englisch. Die uralten Texte aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit bewegten die Herzen auch in Coppermine, auch bei Menschen, die die Worte gar nicht verstehen konnten.
    »Vielleicht kommt irgendwann der Tag, an dem wir die Lieder in ihrer Sprache singen«, dachte Jack, während die frisch ausgepackten »neuen« Jacken und Schmuckstücke aus dem Süden im Krippenspiel stolz zur Schau gestellt wurden: Engel in neuen Parkas, die Drei Könige in bunten

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