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Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Titel: Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Vollkommer
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der Himmel auf Erden?« Ein Raunen ging durch den Raum. Noch konnten sie es sich nicht vorstellen.
    »Alec, sie brauchen ihre eigenen Bibeln«, seufzte Jack nicht zum ersten Mal, als die zwei Männer wieder unterwegs waren. »Und Männer aus ihrer Mitte, die lesen und unterrichten können, ihnen in den Wegen des Herrn Jesus ein tägliches Vorbild sein können.«
    »So oft, wie du über die Übersetzung der Bibel redest, klingt es, als ob du es in Angriff nehmen solltest, Mr Sperry.«
    »Mr Sperry« lief gerade neben dem Schlitten. Er erhöhte seine Schrittgeschwindigkeit und blieb in seinen Gedanken versunken.

Sommerbrise in der Tundra
    An einem Tag im Juli war es so weit. Ein Knall spaltete die stille Luft. Es war ein ohrenbetäubendes Krachen, als ob ein riesiger Spiegel zerschmettert würde. Der Ozean hatte begonnen, seine glasharte Eisschicht mit einem mächtigen Befreiungsschlag abzuwerfen, um seine verborgenen Wassertiefen wieder atmen zu lassen. Eine Kettenreaktion folgte. Die Schöpfung seufzte, gähnte, streckte sich, wurde wach. Bald zogen sich Tausende von kleinen Rissen durch das Eis, seine Oberfläche knisterte, spaltete sich, fing an, sich zu bewegen. Man sah wieder, wo das Land aufhörte und das Wasser begann. Erste Sonnenstrahlen, satt, golden, warm, glitten über den immer noch weißen Boden. Dichter Nebel zog bei Tagesanbruch über die Landflächen und schimmerte in einem Gold, das ihn von unten, von innen, zu beleuchten schien. Es war nicht mehr das bedrohliche Winterspektakel mit seinen scharfen Konturen, atemberaubend, aber erschreckend; die Sonne brachte weichere Töne mit sich, es war eine anmutige, bewegende Schönheit.
    Es war Sommer. Stumme, starre Eisgestalten lösten sich in schäumenden Bächen. Betonartige Eismassen verwandelten sich in rauschende Flüsse. Wo man auch hinschaute, murmelte, plätscherte, sprudelte es. Als ob jemand einen Lebenshauch in das endlose, starre Weiß hineingeblasen hätte und es auf einmal anfinge, zu lachen, zu singen, zu tanzen. Als ob die ganze Natur von einer eisernen Klammer befreit wurde und Luft holte. Um das bunte Schauspiel optimal zur Schau zu stellen, hörte die Sonne auf, unterzugehen, und schwebte für eine kurze Stunde um Mitternacht über dem Horizont, bevor sie wieder stieg. Sie wollte wohl keinen Augenblick verpassen. Die Mitternachtssonne warf ein schauriges Licht über eine Landschaft, die ihre Schneehülle wie ein ungewolltes Korsett abschüttelte. Eine Welt in Schwarz-Weiß verwandelte sich in ein leuchtendes Farbenspiel.
    Gleichzeitig füllte ein Orchester von fröhlichen Geräuschen die Luft. In der Tier- und Vogelwelt hatte es sich herumgesprochen, dass die Welt wieder lebte und Besuch empfing. Schwäne glitten in eleganten Kurven auf dem Fluss, Enten schnatterten und tauchten in der Nähe der Sandbänke, Rotkehlchen bauten Nester in den Sträuchern, Spatzen hüpften auf den Dächern, Sumpfläufer suchten am Ufer nach Wasserkäfern und -schnecken. Das verlassene Land wimmelte wieder von Leben.
    Die Augen gewöhnten sich schnell und gerne an das Grünbraun der befreiten Erde. Bärentrauben strahlten mit ihrem Scharlachglanz aus den Sträuchern, Moosbeeren guckten verstohlen aus dem saftigen Boden, pralle Blaubeeren versteckten sich im Tundragras. Allein der Blick auf neue Farben, die mit Weiß nichts zu tun hatten, genügte, um ein tiefes Gefühl des Glücks und der Erleichterung in den Seelen der wintermüden Arktisbewohner auszulösen. Man verlor wieder sein Zeitgefühl. Es gab kein abendliches »Ins Bett« mehr, weil es keinen Abend gab. Nur das blendend feurige Schauspiel der Mitternachtssonne, die sich nachts mit ihren schimmernden Rotfarben über den Himmel warf, trennte einen Tag vom nächsten. Sonnenuntergang war zugleich Sonnenaufgang. Die Leute blieben bis drei oder vier Uhr nachts hellwach und schliefen dann bis drei oder vier am nächsten Nachmittag.
    Die eintönige Diät der Arktisbewohner bekam Abwechslung. Moorschneehühner pickten im Gestrüpp der dunkelgrünen Grasflächen in träger Lässigkeit nach Beeren. Sie waren leichte Beute für jeden Jäger und ergaben einen leckeren Fleischauflauf. Eier der brütenden Vögel boten eine Zusatzkost für den ansonsten mager gedeckten Frühstückstisch.
    Genug zu tun gab es allemal. Nur in dieser Zeit des Jahres war es möglich, die Siedlungsbauten instand zu setzen, zu pflegen und Reparaturarbeiten durchzuführen. Man wartete sehnlichst auf die jährliche Ankunft des

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