Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis
bereiten. Ein sich tausendfach wiederholender, grausamer Vorgang, der aus der Not geboren wurde. Sobald eine Familie weiter hinter Karibuherden herziehen musste, wurden Alte und Gebrechliche in ein kleines Iglu gelegt und zum Sterben zurückgelassen. Lebendig begraben. Manchmal nahm ein alter Mensch die Angelegenheit selbst in die Hand, wanderte in die Schneeverwehungen hinaus und kam nicht wieder. Niemand wehrte sich oder klagte. Es war der freiwillige Suizid des Einzelnen zugunsten der Gemeinschaft. Menschenleben als Wegwerfware, nicht weil es einer dekadenten Sucht nach Wohlstand und Bequemlichkeit im Weg stand, sondern weil ein Wandervolk es sich schlichtweg nicht leisten konnte, Beine mitzunehmen, die nicht selbst laufen konnten.
Ein Mann war verzichtbar, sobald er nicht mehr jagen konnte, es sei denn, er konnte Geschichten erzählen und hatte Unterhaltungswert. Eine Frau war unbrauchbar, sobald ihre Augen zu schwach waren, um die Kleider und Stiefel der Familie durch tägliches Flicken wasserdicht zu halten. Auch sie konnte sich durch ihr Geschick als »Storyteller« retten. Oder aber ein älterer Mensch war im Besitz übernatürlicher Kräfte, stellte seine Fähigkeit als Schamane unter Beweis und nahm es mit bösen Geistern auf. Dann hatte auch er eine Chance, länger zu leben. Die meisten Menschen waren jedoch mit 50 Jahren schon überflüssig. In der Arktis reduzierte sich das Leben auf pure Funktionalität.
Einmal erfuhr Jack von einer alten Frau, die ihrer Siedlung keinen Nutzen mehr brachte und gemäß der Tradition in einem Iglu zurückgelassen wurde, während der Rest der Familie Richtung Cambridge Bay zog. Ein tieffliegendes Flugzeug sichtete das verlassene Schneedorf, landete in der Nähe und fand die einsame Oma vor, die mit Gelassenheit auf ihren Tod wartete. Sie wurde daraufhin nach Cambridge Bay mitgenommen. Ein Lacher war immer garantiert, wenn Jack seinen Eskimofreunden erzählte, wie die alte Dame die erschöpften Hundegespanne ihrer Familie fröhlich begrüßte, als diese einige Zeit später selbst in Cambridge Bay eintrafen.
Auch krankes, schwaches, behindertes Leben hatte in der Gemeinschaft der Eskimos keinen Platz.
»Wie verkraftete eine Frau es nur, ihr neugeborenes Kind einfach wegzuwerfen, ich meine, in ihrer Seele?«, fragte Jack einmal seinen Freund Alfred, als sie über die alten Zeiten sprachen. Ein Schmerz durchdrang kurz sein Herz, als plötzlich die Erinnerung an seine Frau im Krankenbett mit einem winzigen, leblosen Bündel im Arm wach wurde.
Die besten Gespräche ergaben sich nach langen Reisetagen, in einem Zelt oder einem provisorischen Iglu irgendwo unter dem Sternenhimmel. So war es auch jetzt. Jacks Fassungslosigkeit hatte Alfred schon öfters zur Kenntnis genommen. Er dachte einen Moment nach.
»Indem sie keine Seele haben durfte. Auch ein Mann durfte keine Seele haben«, antwortete er trocken. »Es gab keine Diskussionen«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu, »die Mutter wurde nicht nach ihrer Meinung gefragt. Ihre einzige Aufgabe war, so schnell wie möglich wieder schwanger zu werden. Und dieses Mal, bitteschön, mit einem Sohn. Ich meine, man hatte schon einen Weg, das zu rechtfertigen.«
»Wenn ein Kind erst dann als Mensch gilt, wenn ihm ein Name gegeben wird, dann ist das Aussetzen eines namenlosen Babys kein Kindesmord. Es ist noch kein Mensch. Erst mit dem Namen bekommt es eine Persönlichkeit. Deshalb war die Namensgebung ein großes Ereignis. Jedes Kind bekam den Namen des zuletzt verstorbenen Verwandten, unabhängig vom Geschlecht des Kindes, und der Geist dieses Verwandten ging in das Kind über, eine Art getarnte Reinkarnation. Ab diesem Zeitpunkt wurde das Kind mit Würde behandelt, man hatte es ja schließlich auch mit dem toten Verwandten zu tun …«
»Eines verstehe ich aber nicht …«, Jack hatte seine Sprache wiedergefunden. »Wenn die Mädchen immer ausgesetzt wurden …«
»Wer blieb für eine spätere Heirat?«, unterbrach Alfred. »Nichts leichter als das«, beantwortete er seine eigene Frage, »die Frauen wurden geteilt. Eine Frau auf zwei Männer zum Beispiel. Und wehe dem Jäger, der seine Macht dadurch zeigen wollte, dass er sich zwei Frauen nahm. Die anderen Männer gingen auf ihn los, aber wie.«
Manch eine Gewalttat war dem Mangel an Frauen zuzuschreiben, und »Polyandrie« (das Gegenteil von »Polygamie«; eine Frau hat mehr als einen Ehemann) kam nicht selten vor.
»Ich kannte einen Mann namens Ulukhak«, erzählte
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