Am Rande wohnen die Wilden
Schesternjow dankbar zu sein«, sagte sie vorsichtig. »Du könntest endlich in Leningrad arbeiten, und wir könnten ständig zusammen sein. Wir hätten die Chance, unser Leben in Ordnung zu bringen, Lester.«
Sie fand selbst, daß ihre Stimme viel zu beschwörend geklungen hatte. Hoffnung stieg in ihr auf, als Lester entgegen seiner sonstigen Gewohnheit nicht sofort und energisch gegen ihren Vorschlag protestierte. Als er sich jedoch umwandte, sah sie, daß sich über seinen Augen eine steile Falte gebildet hatte. Er löste sich vom Fenster, kam herüber zum Tisch und blieb vor ihr stehen. Immer noch hatte er die Rechte in der Hosentasche.
»Kannst du mir sagen, weshalb Schesternjow zwei Sekretäre zur Koordinierung der Kontaktaufnahme mit den Mornen nach hier delegiert hat, dich und Aurelhomme?« fragte er, und sie glaubte ein Lauern in seiner Stimme zu verspüren. Trotzdem ging ihr der Sinn der Frage nicht auf. Sie hob die Schultern.
»Aurelhomme ist ein Mensch, der eigentlich zur Lösung aller Aufgaben zu verwenden ist«, sagte er. »Er findet meist die richtigen Wege, und er findet sie schnell und sicher. Ich meine.«
»Und doch übersieht er manchmal Kleinigkeiten, die zu Stolpersteinen werden können«, unterbrach sie ihn. »Ich hatte die Aufgabe, darauf zu achten, daß uns auch nicht die kleinste Kleinigkeit entgeht.«
»...und Schesternjow über seine Unterlassungssünden zu berichten«, vollendete Lester Sullivan.
Das war eine boshafte Unterstellung. Und plötzlich wußte sie auch, worauf seine Frage abgezielt hatte. Trotzdem bemühte sie sich, ruhig zu bleiben. »Aber nein, Lester. Wie kommst du nur auf diese absurde Idee?«
Mit müder Geste wehrte er ab. »Aurelhommes Versetzung kommt einer Ablösung gleich. Schesternjow tut derartiges nicht ohne schwerwiegende Gründe«, sagte er leise. »Oder hast du eine andere Erklärung für Aurelhommes plötzliche Abreise? Oder für dieses Schreiben?« Er deutete auf das Fernschreiben, als ekele er sich, es zu berühren.
Sie fand keine Erklärung, und eigentlich suchte sie auch keine mehr. Lesters Vorwurf war kompletter Unsinn. Er war erregt, und die Erregung legte ihm ungerechtfertigte Worte in den Mund. Es paßte ihm nicht, seinen Arbeitsplatz hier in der amerikanischen Region aufzugeben und nach Leningrad zu gehen, ihr nach Leningrad zu folgen, wie er es interpretieren würde.
Sie blickte auf und öffnete den Mund zu einer ersten Entgegnung, da hörte sie die Tür klappen und wußte, daß nun alles zu Ende war. Alle guten Vorsätze hatten ihnen nicht geholfen. Ihr Lebensweg hatte sie zusammengeführt und wieder auseinandergerissen, und als ihnen das Leben eine neue Chance gab, hatten sie Steine auf ihren Weg gehäuft, Steine, die sie beide nicht überspringen konnten.
Mechanisch griff sie zu dem fast leeren Weinglas, trank einen kleinen Schluck und schüttelte sich. Der Wein war schal und warm geworden.
Als Karin Bachfeld die Metrostation unter dem Ratsgebäude in Leningrad verließ, stand sie einen Augenblick lang fremd in dem bunten Gewimmel heiterer Menschen. Es dauerte Minuten, ehe sie ihre trüben Gedanken unter Kontrolle brachte und sich auf das konzentrierte, was sie im Rat erwartete. Sie würde Bericht erstatten, sachlich und ohne jede Emotion, aber Schesternjow würde ihr ansehen, daß etwas nicht stimmte. Fragen würde er jedoch nicht, er pflegte zu warten, bis seine Mitarbeiter ihre Probleme selbst vortrugen.
Sie aber würde ihre privaten Sorgen für sich behalten, sie würde nach ihrem kurzen Bericht ihre Unterlagen abgeben und dann richtig ausschlafen, sie war müde von der Reise und vom Nachdenken.
Der Expreßlift brachte sie hinauf in das Obergeschoß, in dem ihr Büro lag.
Auf dem Korridor kam ihr Aurelhomme entgegen. Lachend und beschwingt eilte er auf sie zu, streckte zur Begrüßung die beiden Hände weit von sich und öffnete den Mund zu einer seiner heiteren Tiraden. Die Abendsonne, die durch die Glaswand schien, gab seinem Gesicht eine gesunde Farbe. Er sah aus, als käme er geradenwegs aus dem Urlaub. »Hallo!« rief er und schüttelte ihre Hände. »Wieder im Dienst? Ausgezeichnet! Gleich morgen müssen wir uns unterhalten. Ich brauche unbedingt einige Tips von Ihnen. Schesternjow hat mir die Betreuung der Mornen übertragen, die in wenigen Tagen.«
Sie winkte ab. »Zuerst muß ich meinen Bericht erstatten, glaube ich.«
Lachend schüttelte er den Kopf. »Das werden Sie auf morgen verschieben müssen. Der Alte ist
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