Am Rande wohnen die Wilden
heute abend im Theater. Er geht gern ins Theater, wissen Sie?« Verschmitzt grinste er, als er ihre eigenen Worte wiederholte.
Sie fühlte ein wenig Enttäuschung, und plötzlich war sie wieder unendlich müde.
Aurelhommes heiteres Gesicht zerfloß in Mitleid.
»Verzeihen Sie«, bat er. »Ich benehme mich wie ein Elefant im Porzellanladen. Sie müßten sich ausruhen, und ich schwatze hier unbekümmert drauflos.«
Sie legte ihm lächelnd die Hand auf den Arm. Seine Fröhlichkeit tat ihr gut. »Schon in Ordnung, Jean. Wir treffen uns morgen oder übermorgen im Büro. Dann können wir uns ausführlich unterhalten. Auch ich werde Schesternjow um die Zusammenarbeit mit einer Gruppe der Mornen bitten.«
Sie war ihm dankbar, daß er sie schweigend bis zu ihrem Büro begleitete, dort auf sie wartete und daß er sie dann auch noch bis vor das Ratsgebäude brachte. Er war übertrieben aufmerksam, und sie genoß seine Fürsorge wie einen wärmenden Mantel. Er schien von seiner neuen Aufgabe begeistert.
Die Newa-Kais lagen in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Die Menschen hatten sich in wärmere Kleidung gehüllt, von der See her wehte eine kühle Brise in die Stadt hinein. Karin ließ sich von dem Menschenstrom bis zur Metrostation treiben, fuhr die Rolltreppe hinab, und über ihr reckte sich das Reiterstandbild Peters I. in den kühlen Sommerabend.
Als sie die mit geschliffenem Kunststein ausgekleidete Metrohalle betrat, fröstelte sie. Sie zog den Mantel um die Schultern zusammen und lehnte sich an eine der runden marmornen Säulen, bis der Zug einlief. Die Schnellbahn trug sie hinaus an die Küste des Baltischen Meeres, wo sich ihr kleines Sommerhäuschen vor dem kalten Nordwind zwischen die Dünen duckte.
Eine Stunde später, sie hatte bereits geduscht und ließ sich den Körper von einem Hochfrequenz-Massagegerät bearbeiten, schreckte sie der Ruf des Videokoms auf.
Einen Augenblick dachte sie an Lester Sullivan, ihr wurde noch heißer, als ihr unter den Strahlen des Gerätes ohnehin war, aber dann verwarf sie den Gedanken sofort wieder. Lester würde nie mehr in Leningrad anrufen.
Trotzdem nahm sie umständlich vor dem Videokom im Sessel Platz, schlug die Beine übereinander und versuchte den Hausmantel möglichst vorteilhaft zu drapieren. Als sie sich bei dieser Beschäftigung überraschte, stand sie unwirsch auf und schaltete das Gerät ein. Auf dem Schirm erschien das gutmütige Gesicht Schesternjows. Fast hätte sie hell aufgelacht.
»Ich habe Sie hoffentlich nicht im Schlaf gestört«, sagte er. Das war keine Frage, keine Entschuldigung, sondern eine Feststellung. Karin lächelte bei dem Gedanken, wie er wohl reagieren würde, wenn sie ihm erklärte, daß er sie tatsächlich aus dem Bett geklingelt habe. Wahrscheinlich würde er einen Augenblick lang stutzen, sie ansehen und dann erklären, daß sie ja ohnehin aufgewacht sei.
Sie winkte lächelnd ab. »Nein, nein«, log sie und blickte auf ihren Hausmantel. »Ich hatte sowieso noch zu tun.«
Es bestand keinerlei Gefahr, daß Schesternjow ihre kleine Lüge bemerkte, denn bei allem Wissen, das er auf allen erdenklichen Fachgebieten besaß, in Modefragen war er ein völliger Versager. Sie hätte im Hausmantel in sein Büro treten können, es wäre ihm nicht aufgefallen.
»Jean deutete mir an, daß Sie die Absicht haben, einige Tage auszuspannen«, erklärte er, wie immer ohne Umschweife auf das eigentliche Thema losgehend. »Wir hatten leider bisher keine Gelegenheit, uns miteinander eingehend zu unterhalten, sollten aber, bevor Sie sich zurückziehen, noch einige Dinge unter Dach und Fach bringen.«
Sie wußte, daß er ihren Wunsch voll und ganz akzeptierte, und wenn er sie bat, noch einige Stunden oder vielleicht sogar Tage auf ihre wohlverdiente Entspannung zu verzichten, dann hatte er dafür zweifellos gewichtige Gründe.
»Lester Sullivan?« fragte sie vorsichtig, noch nicht im klaren darüber, ob ihm dieses Thema wichtig genug war, sie zu später Stunde noch anzurufen.
Schesternjow zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist«, sagte er leise, und sie wußte, daß dieses Thema für ihn nicht wichtig genug war. Sein Schulterzucken deutete darauf hin, daß er nicht gewillt war, die Angelegenheit »Lester« jetzt auszudiskutieren.
»Nein, Karin«, fuhr er fort, »ich möchte etwas anderes mit Ihnen besprechen. Ich möchte wissen, was Sie von den Mornen halten.«
Sie hatte eine derartig direkte Frage nicht
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