Am Rande wohnen die Wilden
Einem plötzlichen Impuls folgend, strich er ihr über die Schultern und dachte daran, wie gut es war, daß ihn seine Kollegen nicht sehen konnten. Er fühlte sich hilflos.
In den nächsten Minuten redete er viel, ohne zu wissen, ob sie ihm zuhörte oder nicht. Er redete Dinge, an die er sich später mit Sicherheit nicht mehr würde erinnern können, denn er redete, um nicht das zu sagen, was er eigentlich sagen wollte. Schließlich merkte er, daß er sich selbst belog.
»Das alles war zuviel für Sie, Karin«, sagte er leise und half ihr beim Aufstehen. »Erst die Anstrengungen der Expedition, Ihre eigene Krankheit, dann die wochenlange Pflege und nun das.«
Er führte sie zur Tür, übertrieben vorsichtig, wie eine Schwerkranke. »Sie müssen endlich ausspannen und auf andere Gedanken kommen. Das hier kann auch ein Pfleger des Sanatoriums übernehmen«, redete er auf sie ein, obwohl es nicht mehr nötig schien, sie davon zu überzeugen, daß sie Ruhe benötigte. Sie ließ sich ohne Widerstreben hinaus auf den langen Gang führen, der in seiner blendenden Sauberkeit unpersönlich und kalt wirkte.
Als sie einige Schritte gegangen waren, schien es ihm, als stütze sie sich schwerer als bisher auf seinen Arm. Er bekam einen Riesenschreck. Frauen neigen dazu, in derartigen Situationen ohnmächtig zu werden, sagte er sich und wußte nicht, woher er diese Weisheit hatte. Er wußte aber mit Sicherheit, daß es dann zweifellos vorbei sein würde mit seiner mühsam aufrechterhaltenen Beherrschung. Bisher hatte er immerhin eine leidliche Figur abgegeben, aber wenn sie in Ohnmacht fiele, würde er sich wahrscheinlich unsterblich blamieren.
Flüchtig erinnerte er sich daran, gehört zu haben, daß man Ohnmächtigen die Kleidung am Halse öffnen und sie von beengenden Kleidungsstücken befreien müsse, um ihnen die Atmung zu erleichtern. Lehrgänge fielen ihm ein, bei denen sie ihre Scherze über die Beatmung Ohnmächtiger gemacht hatten, und nun haderte er mit sich selbst, daß er das alles nicht sehr ernst genommen hatte. Wer konnte auch ahnen, in welch komplizierte Situation er noch geraten könne?
Er versuchte ihr in das Gesicht zu blicken und atmete auf. Eine Steinlawine fiel ihm vom Herzen. Sie lächelte, lächelte unter Tränen und lehnte sich noch ein wenig mehr an als eben, aber es genügte, um ihn Erleichterung fühlen zu lassen. Plötzlich war er überzeugt, daß er auch nicht versagt hätte, wenn sie ohnmächtig geworden wäre.
Als sie hinaus in den weitläufigen Garten des Krankenhauses traten, hatte sich der Himmel über der Newa bezogen. Nur die nadelfeine Spitze der Admiralität fing mit ihrem Goldbelag einen letzten Sonnenstrahl ein und blinkte im trüben Grau.
An den Kais standen Angler und blickten gedankenverloren in die langsam ziehenden Wasser, in denen sich meterlange Wasserpflanzen träge wiegten. Aus der Gegend des Meeres zog langsam ein silberner Riesenvogel heran, ein Düsenklipper aus Übersee, der die aus dem Schornstein der »Aurora« flatternde Rauchsäule summend überquerte, seinen spitzen Schnabel senkte und weit hinter dem Sanatoriumskomplex zur Landung ansetzte.
Lange hatte sie es zu Hause nicht ausgehalten. In den zwei Tagen, in denen sie allein in ihrem Haus hinter den Dünen gewesen war, war es überraschend schnell bergauf gegangen. Sie hatte ausgezeichnet geschlafen, war hin und wieder geschwommen und hatte viel Radio gehört. Irgendwie schien es ihr Auftrieb zu geben, daß das Thema Lester Sullivan für sie abgeschlossen war, endgültig und ohne Rückstände, ohne eine Erinnerung an ihn. Dabei hätte sie die ihr liebste Erinnerung, sein Kind, sogar gern behalten. Nicht, weil es das Kind Lesters gewesen wäre, sondern ihr eigenes. Sie mußte an Bracke, diesen fürsorglichen Mann vom Mond, denken und lächelte. Er war der erste, der sie hier wieder begrüßt hatte. Ganz zart und vorsichtig hatte er sie geküßt, so, als sei er seiner Sache nach zwei Tagen durchaus nicht mehr sicher.
Das Befinden der Mornen war unverändert, die schwärenden Wunden schienen eher noch größer geworden. Jetzt war ihr Platz wieder hier, neben den Foliezelten. Die drei Mornen und ihre Pfleger waren ausgeschlossen von den einmaligen Ereignissen, die sich auf der Erde abspielten, von der großartigen Synthese, die sich zwischen Mornen und Menschen abzuzeichnen begann. Die Rundfunknachrichten hatten sich überschlagen. In Leningrad und in San Francisco waren die ersten Zentralrechner installiert
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