Am Rande wohnen die Wilden
den Kopf zur Seite drehte, als Sullivan sie küssen wollte, so daß seine Lippen nur ihre Wange streiften.
Er ballte die Hände in den Taschen seines Kittels und registrierte dabei den verblüfften Gesichtsausdruck Sullivans ohne Schadenfreude. Noch begriff er nicht, daß dort sein größter Wunsch in Erfüllung ging. Es dauerte Minuten, ehe er verstand, daß sich die Frau längst innerlich von Lester Sullivan gelöst hatte.
Als der Bakterienabsorber anlief, zuckte er zusammen und riß sich gewaltsam von dem Anblick los, der ihn plötzlich gar nicht mehr schmerzte. Er betrachtete die drei stummen Gestalten unter den Zelten. Die Gesichter und die Hände waren bis zur Unkenntlichkeit gedunsen, die Hautfarbe hatte sich in ein fast ins Violett spielendes Blau verändert. Auf Kopf und Gesicht zeigten sich tiefe, blutige Wunden. Die Bakterien der Erde, die mit der Luft in die kleinen Wunden der Körper eingedrungen waren, hatten die an sich belanglosen Schrammen zur Entzündung gebracht, waren in die Blutbahnen geraten und wüteten entsetzlich in den wehrlosen Körpern.
Zwar hatten die Ärzte von Anfang an für eine keimfreie Atmosphäre gesorgt und sich sowohl um eine chemische wie auch mechanische Vernichtung der Krankheitserreger bemüht, aber der Bakterienspiegel sank nicht. Die Schädlinge schienen sich in den ihnen fremden biologischen Systemen ausgezeichnet entwickeln zu können. Die Diagnosegeräte der Mornen arbeiteten ständig auf Hochtouren. Bojan hatte sie einsetzen lassen, weil er hoffte, daß sie eine Veränderung im Befinden der Kranken eher anzeigen würden als die irdischen Apparate. Aber auch sie schwiegen, obwohl ihre blinkenden Anzeigen bewiesen, daß sie ständig auf der Lauer lagen. Manchmal hatte Bojan stundenlang an den Liegen gestanden und versucht, Parakontakt mit den Kranken zu bekommen. Es mußte eine furchtbare Anstrengung sein, denn er war hinterher meist zu Tode erschöpft. Genützt hatte es nichts.
Die Hirne der Verletzten schwiegen. Nur ihre Motorik arbeitete weiter und pumpte Blut und Bakterien durch ihre Körper.
Als Bracke aufblickte, hatte er zuerst den Eindruck, daß er allein im Zimmer sei, allein mit drei Sterbenden. Dann aber hörte er einen Laut, der wie ein unterdrücktes Schluchzen klang. Auf einem kleinen Hocker neben dem hinteren Sauerstoffzelt war Karin Bachfeld zusammengesunken. Sie hatte den Kopf in die Hände gestützt und schien völlig niedergeschlagen. Bracke blickte sich um. Lester Sullivan war nicht mehr im Zimmer.
Einen Augenblick glaubte er, sie weine über die endgültige Trennung von Lester, denn daß sie endgültig war, daran hatte er keinen Zweifel mehr, ohne zu wissen, woher diese Sicherheit plötzlich kam. Aber dann sagte er sich, daß eine Frau wie Karin in einem solchen Falle nicht weinen würde. Sie würde sich aufrichten, die Zähne zusammenbeißen und zur Tagesordnung übergehen. Nie würde sie in einer derartigen Situation ihr Innerstes vor Fremden zeigen, vielleicht würde sie weinen, wenn sie allein wäre.
Der Grund für ihre derzeitige Depression war ein anderer. Sie selbst hatte nach dem Unfall ebenso wie Aurelhomme und Laurentz eine Menge durchmachen müssen, mehr noch als die beiden Männer. Trotzdem hatte sie sich, kaum einigermaßen genesen, zum Hilfsdienst an den Mornen zur Verfügung gestellt. Das war zuviel für sie.
Bracke stieß sich daran, daß er sich innerlich als ein ihr fremder Mensch gefühlt hatte. War er ihr noch ein Fremder? Hatten sie sich nicht in den Tagen der Expedition besser kennengelernt, als es zwei Menschen im Normalfall in dieser relativ kurzen Zeit möglich war? Und war er ihr nicht fast ein guter Freund geworden in den letzten Wochen?
Und nun hatte sie sich endgültig von Lester Sullivan getrennt, eben, in diesen Minuten, in denen er sich bemüht hatte, ihr Gespräch nicht zu belauschen.
Als er mit seinen Überlegungen bis zu diesem Punkt gelangt war, und als er sich sagte, daß er trotz mangelnder Erfahrung das Richtige ahnte, begann er sich unsicher zu fühlen. Mit weinenden Frauen hatte er noch nie etwas anzufangen gewußt. Beim besten Willen nicht. Ihm fehlte, wie er selbst einschätzte, nicht nur die Erfahrung, sondern wohl auch ein gut Teil Einfühlungsvermögen. Und bei Karin Bachfeld würde es ihm besonders schwerfallen, mit ein paar banalen Worten Trost zu spenden.
Mit aller Macht unterdrückte er den Wunsch, sich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer zu schleichen, und trat einen Schritt auf sie zu.
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