Am Samstag aß der Rabbi nichts
Dollar
hundert Cent hat. Im Lauf der Jahre hatte seine Frau gelernt, sich seinem Tempo
anzupassen; Mitzi pflegte um sechs Uhr Abendbrot zu essen, denn Marve kam oft
später nach Hause und hatte dann schon irgendwo gegessen.
Mitzi machte sich manchmal Sorgen. Marvin war fast vierzig,
und es kam ihr so vor, als schufte er von Jahr zu Jahr mehr. Er kümmerte sich
nicht nur um seine Versicherung; da war noch die Synagoge und der Elternbeirat,
dessen Vizepräsident er war, und der Gemeindefonds, dem er vorstand. Wenn Mitzi
protestierte, dass es bei seiner Arbeit heller Wahnsinn sei, sich immer noch
mehr aufzuhalsen, erklärte er, dass im Grunde alles zum Versicherungsgeschäft
gehöre – es bedeute neue Verbindungen, und das ganze Versicherungsgeschäft
bestehe eigentlich darin, neue Verbindungen anzuknüpfen. Sie wusste jedoch,
dass es ihm einfach Spaß machte. Wenn er geschäftig herumrennen konnte, war er
in seinem Element. Und sie musste zugeben, dass ihm dieses Leben einstweilen
recht gut bekam.
Marvin Brown verdankte seinen Erfolg nicht nur seinen vielen
Verbindungen. Er hatte ein Prinzip: Man besucht einen Kunden nie auf gut Glück;
man muss vorher so viel wie möglich über ihn in Erfahrung bringen. Als ihm
seine Frau berichtete, der Rabbi habe den Besuch eines gewissen Dr. Sykes
angekündigt, rief er sofort an, um herauszufinden, worum es ging.
«Er kommt im Auftrag der Witwe von diesem Isaac Hirsh, der
am Freitag gestorben ist», sagte der Rabbi.
«Was? Isaac Hirsh? Du lieber Himmel! Mit dem hab ich vor
einem knappen Jahr eine Versicherung abgeschlossen!»
«Wirklich? Eine Lebensversicherung? Wissen Sie noch, über
wie viel?»
«Nicht auswendig … Fünfundzwanzigtausend, glaube ich. Aber
ich kann ja nachsehen. Warum?»
«Sagen Sie, Mr. Brown, ist er bei der ärztlichen
Untersuchung glatt durchgekommen?»
«Ich denke schon … Aber das will nicht viel besagen. Manche
dieser Doktoren nehmen sich nicht mal die Mühe, die Leute abzuhorchen. Sie
stellen ein paar Fragen, und wenn der Patient einigermaßen gesund aussieht,
lassen sie ihn laufen … Was war’s denn? Herzschlag?»
«Meines Wissens steht im Protokoll der Polizei Unfalltod.»
«Unfall? Oh … Bei Unfalltod zahlen wir doppelt. Das heißt,
die meisten Versicherungen werden so abgeschlossen. Es kostet kaum mehr. Die
Witwe kann sich freuen … Ich meine, weil er so abgeschlossen hat. Falls er
tatsächlich so abgeschlossen hat. Aber ich glaube … Ja, ich erinnere mich. Ging
ganz glatt, ohne viel Zureden.»
«Ja, also dieser Dr. Sykes handelt im Auftrag der Witwe. Mr.
Hirsh war kein Gemeindemitglied, aber seine Frau wünscht, dass er auf dem
jüdischen Friedhof nach jüdischem Ritus beigesetzt werde. Sie selbst ist
Christin.»
«Bin im Bild, Rabbi. Kümmern Sie sich um gar nichts. Ich mach
das schon.»
12
Sykes hatte den Rabbi mit keinem Wort auf Mrs. Hirsh
vorbereitet. Er war überrascht, eine große junge Frau von Anfang dreißig
anzutreffen – erstaunlich jung für einen fünfzigjährigen Mann. Die blauen Augen
waren verweint und geschwollen, aber sie wirkte trotzdem faszinierend mit dem leuchtend
roten Haar. Auf den ersten Blick fand er, sie wirke reichlich aufgetakelt; sie
trug zwar ein schwarzes Kleid, aber es war aus glänzender Seide und mit Volants
und Rüschen besetzt und sah nicht aus wie ein Trauerkleid. Dann fiel ihm ein,
dass sie es wahrscheinlich nicht zu diesem Anlass gekauft hatte und es nur
trug, weil sie nichts Passenderes besaß.
Er stellte sich vor.
«Oh, treten Sie ein, Rabbi. Dr. Sykes rief mich an und
sagte, dass Sie kommen würden … Peter Dodge war auch schon hier; er kennt Sie
offenbar. Dann kam der lutherische Pfarrer, dann einer von den Methodisten und
schließlich ein Unitarier – ich kann mich nicht über Mangel an geistlichem Zuspruch
beklagen.»
«Sie wollten Sie trösten.»
«O ja. Es war nicht zu überhören … Und Sie? Wollen Sie mir
jetzt auch erzählen, dass Ikes Seele im Himmel ist oder in einer besseren Welt,
oder was weiß ich?»
Der Rabbi wusste, dass Trauer und Schmerz vielerlei
Gesichter haben, und nahm ihr die zynische Bemerkung nicht übel. «Ich bedauere
sehr, aber den Artikel führen wir nicht», gab er zurück.
«Wollen Sie sagen, dass Sie nicht an ein Leben nach dem Tod
… an ein Jenseits glauben?»
«Wir glauben, dass seine Seele in Ihrer Erinnerung und im
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