Am Samstag aß der Rabbi nichts
Links und rechts erhaschte er zwischen hübschen, ein wenig
verwitterten Häuschen kurze Blicke in altmodische Gärten. Er sah malerische
Läden von Handwerkern und Antiquitätenhändlern und die Auslage eines
Schiffsausrüsters, voll gestopft mit faszinierenden Dingen: Kompasse aus
Messing, Rollen von Tauwerk, Schiffsglocken, geheimnisvolle nautische Geräte
und gleich daneben ein Paar prosaischer Gummistiefel. Und dann, in einer
besonders engen Gasse, blieb sein Motor stehen. Im Nu bildete sich eine
Autoschlange hinter ihm; verzweifelt betätigte er den Anlasser, trat aufs
Gaspedal, nichts. Hinter ihm hupte jemand ungeduldig. Andere folgten dem
Beispiel, und es entstand ein Höllenlärm.
«So wird das nichts, Rabbi», sagte eine Stimme durch das offene
Fenster. «Der Motor ist abgesoffen.»
Er sah auf und begrüßte erleichtert Hugh Lanigan, den Polizeichef
von Barnard’s Crossing, der grinsend neben dem Wagen des Rabbi stand, in
Sporthemd und Khakihosen, eine Sonntagszeitung unter den Arm geklemmt.
«Lassen Sie mich mal», sagte Lanigan.
Der Rabbi zog die Handbremse und rückte beiseite. Die Huperei
hatte aufgehört – entweder, weil die Leute den Polizeichef erkannt hatten, oder
weil ihnen klar geworden war, dass der Verkehrssünder da vorn ernstlich in der
Klemme saß. Der Polizeichef trat das Gaspedal ganz durch, drehte den
Zündschlüssel, und prompt sprang der Motor an.
«Na bitte …» Lanigan sah den Rabbi an und lächelte. «Wie wär’s
mit einem Drink bei mir zu Hause?»
«Gern. Aber fahren Sie.»
«Wenn Sie wollen.» Mühelos steuerte Lanigan den Wagen durch
die engen Gassen. Vor seinem Haus angelangt, führte er den Rabbi auf die
Veranda und rief nach drinnen: «Wir haben Besuch, Gladys!»
«Ich komme», antwortete seine Frau, und kurz darauf stand
sie in der Tür. Sie trug lange Hosen und einen Pullover und sah aus, als hätte
sie gerade im Garten gearbeitet. Das weiße Haar war jedoch sorgfältig frisiert,
und sie hatte frischen Lippenstift aufgelegt. «Schau an, das ist aber eine
nette Überraschung – Rabbi Small!» Sie streckte ihm die Hand entgegen. «Ich war
eben dabei, Manhattans zu mixen – Sie nehmen doch auch einen?»
«Aber gern …» Plötzlich lachte der Rabbi, während Mrs. Lanigan
schon die Drinks richten ging: «Jedes Mal, wenn ich Sie besuche, krieg ich
einen Drink …»
«Geistliches für die Geistlichen, Rabbi.»
«Ja, aber wenn Sie zu mir kommen, hab ich Ihnen immer nur Tee
angeboten.»
«Das war ja wohl meistens dienstlich, und im Dienst trinke
ich keinen Alkohol.»
«Keinen Alkohol, so … Sagen Sie, waren Sie schon mal
betrunken?»
«Wie bitte?» Der Polizeichef schaute ihn verwundert an. «Klar.
Sie vielleicht nicht?»
Der Rabbi schüttelte den Kopf. «Nein … Und Ihre Frau? Was
hat die dazu gesagt?»
Lanigan lachte. «Nichts. Was sollte sie auch sagen? Gladys hat
auch schon mal ’n Schwips hier und da … Und außerdem, so richtig sinnlos
betrunken war ich nie. – Worauf wollen Sie hinaus, Rabbi?»
«Ich komme eben von Mrs. Hirsh …»
«Ach so.»
«Ja. Und ich möchte es gern verstehen. Ihr Mann war
Alkoholiker, und da kenne ich mich nicht sehr gut aus. Bei Juden kommt es
ziemlich selten vor.»
«Richtig. Woran liegt das wohl?»
Der Rabbi zuckte die Achseln. «Ich weiß nicht. Unter
Chinesen und Italienern gibt es auch wenig Alkoholiker, obwohl sie keine
Abstinenzler sind, genauso wenig wie wir … Vielleicht liegt es gerade da–ran,
dass es nicht verboten ist oder als Sünde gilt. Der Reiz des Verbotenen fehlt.»
«Kann sein», meinte Lanigan nachdenklich.
«Und vielleicht … Sehen Sie, eines haben wir Juden mit den
Chinesen gemeinsam: Auch in ihrer Religion spielen die Ethik, die Moral und der
Anstand eine große Rolle, während bei euch Christen der Glaube wichtiger ist.
Primitiv ausgedrückt: Vielleicht neigen wir dadurch weniger zu
Schuldkomplexen.»
«Was hat der Glaube damit zu tun?»
«Im Christentum ist er der Schlüssel zur Erlösung. Aber es ist
nicht immer leicht, zu glauben. Ich stelle mir vor, dass man als Christ
manchmal zweifelt, Fragen stellt, Perioden erlebt, in denen man nicht glauben
kann …»
«Ja und? Da komm ich nicht mehr mit.»
«Kein Mensch ist immer und jederzeit Herr seiner Gedanken.
Sie kommen ungebeten – beängstigende, schreckliche Gedanken. Und wenn man davon
überzeugt ist, dass Zweifel, also Nichtglauben, zur Verdammnis führen kann … Ich
stelle mir vor, dass man sich dann schuldig fühlt. Dass man
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