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Am Samstag aß der Rabbi nichts

Am Samstag aß der Rabbi nichts

Titel: Am Samstag aß der Rabbi nichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Kemelman
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Gedächtnis
seiner Freunde weiterleben wird. Hätte er Kinder gehabt, würde er natürlich
auch in ihnen weiterleben …» Er brach ab und überlegte, wie er auf den
eigentlichen Grund seines Besuches zu sprechen kommen sollte. Es fiel ihm schwer.
Kondolenzbesuche fielen ihm immer schwer.
    Sie kam ihm zu Hilfe. «Dr. Sykes sagte, Sie wollten mir ein
paar Fragen über meinen Mann stellen?»
    «Ja.» Er nickte dankbar. «Ein Begräbnis ist eine rituelle Handlung,
Mrs. Hirsh, und ich muss die Gewissheit haben, dass Ihr Mann Jude im Sinne
unseres Gesetzes war. Da er außerhalb seines Glaubens geheiratet hat …»
    «Ist er dadurch weniger jüdisch?»
    «Nein, aber vielleicht durch die Umstände. Sagen Sie bitte,
wie sind Sie getraut worden?»
    «Standesamtlich. Wollen Sie den Trauschein sehen?»
    Er lächelte. «Ihr Wort genügt mir.»
    Da sagte sie spontan: «Verzeihen Sie, Rabbi … Ich war
giftig, nicht wahr?»
    «Na … ein bisschen, ja.»
    Jetzt lächelte sie auch. «Also fangen wir noch mal von vorn
an. Fragen Sie mich alles, was Sie wollen.»
    Er lehnte sich im Sessel zurück. «Gut. Warum wollen Sie ihn
jüdisch beerdigen lassen?»
    «Weil Ike Jude war. Er hat sich nie für etwas anderes
gehalten.»
    «Obwohl er unsere Religion nicht ausübte?»
    «Nun … Er sagte immer, es gäbe zwei Arten, jüdisch zu sein
– man könne entweder die Religion ausüben oder sich einfach als Jude betrachten,
weil man als Jude geboren wurde … Ist das falsch?»
    «Eh … nein», sagte er vorsichtig; «aber ein jüdisches
Begräbnis ist eine religiöse Zeremonie. Wäre das in seinem Sinne gewesen?»
    «Ich weiß, dass es auch ein Beerdigungsinstitut machen kann;
aber das wäre so … so unpersönlich, nicht? Nein, wahrscheinlich hätte er es so
haben wollen. Wir haben nie darüber gesprochen, aber … ihm persönlich wäre es
vielleicht gleichgültig gewesen. Aber meinetwegen hätte er wohl irgendeine
Zeremonie gewünscht. Und was hätte ihm etwas bedeutet, wenn nicht die jüdische
Zeremonie?»
    «Gut. Ich werde ihn beisetzen … Es ist Sitte, ein paar
Worte am Grab zu sprechen, und leider kannte ich Ihren Mann nicht; Sie müssen
mir von ihm erzählen. Er war um einiges älter als Sie, nicht wahr?»
    «Zwanzig Jahre. Aber wir waren glücklich.» Sie wurde nachdenklich.
«Ja, er war gut zu mir. Und ich war die Richtige für ihn. Dass er so viel älter
war … Na ja, ich hatte genug von dem anderen, bevor ich ihn traf. Er brauchte
mich, und ich brauchte ihn. Es war eine gute Ehe.»
    Der Rabbi zögerte, dann überwand er sich. «Ich verstehe, dass
sein Tod indirekt eine Folge seiner … seiner Trunksucht war. Hat es Sie nicht
gestört? Ich meine, das Trinken?»
    «Das will euch einfach nicht in den Kopf, was? Wenn Sie’s wissen
wollen – es hat auch Ike sehr gestört. Es hat uns das Leben sauer gemacht. Er
verlor deswegen gute Stellen; wir mussten immer wieder umziehen, und es ist
nicht so leicht, jedes Mal von vorn anzufangen … Aber es war nie so, dass ich
Angst vor ihm hatte. Er war nie abstoßend, wenn er betrunken war – eher
schwach, und er hat geweint wie ein kleines Kind. Aber grob war er nie. Es
störte mich nicht sonderlich. Erst später, als es schlimmer wurde und er
manchmal in Ohnmacht fiel, bekam ich Angst. Aber nur seinetwegen. Dass ihm
etwas zustoßen könnte.»
    «Und ist es häufig vorgekommen?»
    Sie schüttelte den Kopf. «In den letzten Jahren hat er kaum
einen Tropfen angerührt, bis auf ein oder zwei Rückfälle … Er hat nicht dauernd
getrunken, verstehen Sie. Er hat sich große Mühe gegeben. Aber wenn’s ihn mal
packte, dann gleich richtig. Das letzte Mal war … Ach, ich weiß nicht mehr. Vor
Monaten.»
    «Und dann am Freitag wieder.»
    «Ach so, ja. Freitag. Daran hab ich nicht gedacht.» Sie schloss
die Augen, und der Rabbi fürchtete, sie würde weinen. Aber sie riss sich
zusammen und zwang sich sogar zu einem Lächeln.
    Er stand auf, um sich zu verabschieden. Da fiel ihm noch etwas
ein: «Merkten Sie jeweils im Voraus, wann es wieder losging?»
    Sie schüttelte den Kopf.
    «Können Sie sich erklären, weshalb er plötzlich zu trinken begann?
Hatte er Sorgen?»
    Wieder schüttelte sie den Kopf. «Ich glaube, er machte sich
ständig wegen irgendetwas Sorgen. Ich habe immer versucht, ihn zu beruhigen – ihm
das Gefühl zu geben, dass ich für ihn da bin, dass ich ihn verstehe …»
    «Vielleicht waren Sie besser für ihn als er für Sie», sagte
der Rabbi leise.
    «Wir waren beide gut

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