Am Samstag aß der Rabbi nichts
unterstützt ihn jemand?»
«Ich unterstütze den Antrag.»
«Ich auch.»
«Gut. Es wurde ein Antrag gestellt, das Budget der
Friedhofskommission auf fünftausend Dollar zu erhöhen zwecks Anlegung einer
Straße …»
«Schreib lieber, eine kreisförmige Straße.»
«Also … einer kreisförmigen Straße innerhalb des
Friedhofareals, wobei alle möglicherweise zusätzlich entstehenden Kosten …»
Nach der Sitzung steuerte Mortimer Schwarz auf Marvin Brown
zu. «Alle Achtung, Marve, das hast du gut hingekriegt … Ich dachte schon, du
wolltest deinen Rücktritt erklären.»
Marve grinste. «Man muss eben seine Ware verkaufen können.»
«Auf alle Fälle hast du was los.» Er grinste: «Ich möchte sehen,
wie der Rabbi dagegen ankommt.»
22
Jacob Wasserman, Gründer und erster Präsident der Gemeinde,
galt in Synagogenangelegenheiten als tonangebend. Mit seinen sechzig Jahren war
er um einiges älter als die meisten Gemeindemitglieder. Er hatte die
Organisation sozusagen allein auf die Füße gestellt, indem er bei den rund fünfzig
jüdischen Familien, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in Barnard’s Crossing
wohnten, abends Hausbesuche machte. Die ersten Gottesdienste waren im
Kellergeschoss seines Hauses abgehalten worden.
Al Becker, sein Nachfolger und zugleich der Vorgänger von Mortimer
Schwarz, begleitete ihn bei seinem Besuch zum Rabbi. Becker war ein untersetzter
Mann mit einer heiseren Bassstimme, die immer aufzubegehren schien. Er hatte nicht
Wassermans Bildung, ganz zu schweigen von der Kenntnis jüdischer Tradition, und
stimmte regelmäßig in allen Vorstandsangelegenheiten wie er.
«Ein Glück, dass Becker und ich einen Krankenbesuch bei Ihnen
vorhatten, Rabbi», sagte Wasserman. «Ich wusste, dass der alte Goralsky ein
einfacher, primitiver Mensch ist, aber dass auch sein Sohn, der schließlich in
Amerika geboren und aufgewachsen ist, so ein abergläubischer Trottel wäre, hätte
ich nie gedacht.»
«Moment, Jacob», protestierte Becker. «Alles, was recht
ist: Wie kannst du behaupten, der Alte ist primitiv? Er ist fromm; er kann alle
Gebete auswendig …»
«Misch dich nicht in Dinge, von denen du nichts verstehst.
Schon möglich, dass er die Gebete auswendig kennt – warum auch nicht?
Schließlich sagt er sie seit achtzig Jahren jeden Tag morgens und abends. Aber
er versteht ihren Sinn nicht.»
«Du meinst, er versteht nicht, was er sagt?»
«Verstehst du vielleicht die hebräischen Gebete?»
«Eh … nein. Ehrlich gesagt, ich benutze meistens die
englische Übersetzung.»
«Na, siehst du? Aber was tun wir jetzt?»
Becker schüttelte bekümmert den Kopf. «Dumm, dass Sie ausgerechnet
jetzt krank sind. Wenn Sie gestern Abend dabei gewesen wären, hätten Sie
erklären können, worum es geht …»
«Ich glaube kaum, so wie Sie’s mir geschildert haben. Es handelte
sich um einen ganz gewöhnlichen Antrag: Die Friedhofskommission wollte Geld zum
Ausbau des Friedhofs. Und die Idee finde ich an und für sich gut … Unter den Umständen
hätte ich nicht gut aufstehen und Marvin Brown und den Präsidenten
irgendwelcher Hintergedanken bezichtigen können.»
«Natürlich nicht», stimmte Wasserman bei. «Und außerdem – ich
glaube kaum, dass die Mehrheit des Vorstandes einer
Hunderttausend-Dollar-Synagoge zugestimmt hätte, nur damit das Grab eines
Außenseiters nicht …»
«Ich erlaube nicht, dass ein jüdisches Grab von eigenen Glaubensgenossen
entheiligt wird», fiel ihm der Rabbi ins Wort.
«Was können Sie dagegen tun?», entgegnete Becker. «Seien wir
vernünftig. Der Bau der Straße ist bewilligt. Es geht jetzt nicht mehr um
diesen Hirsh. Es geht darum, wer in der Gemeinde maßgebend ist, Sie oder der
Vorstand.»
«Nicht ganz, Mr. Becker», versetzte der Rabbi. «In diesem Bereich
hat der Vorstand nichts zu sagen.»
«Das versteh ich nicht, Rabbi.»
«Das ist doch ganz einfach: Ich bin zwar Angestellter der Gemeinde
– arbeitsrechtlich. Aber ich bin nicht ihr Werkzeug; sie kann nichts von mir
verlangen, was gegen die Prinzipien meines Berufes verstößt. In Fragen des
jüdischen Glaubens und der Tradition darf meine Entscheidung von der Gemeinde
nicht angetastet werden.»
«Aber …»
«Eine Witwe kommt zu mir», fuhr der Rabbi unbeirrt fort, «und
bittet mich, ihren verstorbenen Mann auf dem jüdischen Friedhof nach jüdischem
Ritus zu beerdigen. Es ist an mir, zu entscheiden, ob er Jude gewesen ist
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