Am Samstag aß der Rabbi nichts
Wir haben eine Waffe, die praktisch jedermann benutzen konnte,
und praktisch keine Ahnung über das mögliche Motiv. Bleibt noch die Gelegenheit
zur Tat – und auf die müssen wir uns konzentrieren. Wie gesagt, die Juden von
Barnard’s Crossing hatten mehr oder weniger ein gemeinsames Alibi. Sie waren zu
jenem Zeitpunkt alle in der Synagoge, und wer nicht dort war, muss es irgendwie
erklären können. Und Ihr Freund Marvin Brown war nicht dort. Soviel ich weiß,
ist er irgendein hohes Tier in der Gemeinde …»
«Er ist im Vorstand.»
«Na also? Wenn jemand dort zu sein hatte, dann er. Wir wissen
aber, dass er die Synagoge früher verlassen hat – und er will nicht sagen,
warum. Außerdem hat er mit Hirsh eine Versicherung abgeschlossen.
Einverstanden, das heißt noch lange nichts, aber es beweist doch, dass da eine Verbindung
bestanden hat. Brown wird also vernommen – was kann ich dafür, wenn er sich
aufregt? Das kann jedem passieren.»
«Muss man den Leuten nicht sagen, weshalb man sie vernimmt?
Und muss man bei einem Mordfall nicht darauf hinweisen, dass seine Aussagen
gegen ihn verwendet werden könnten?»
«Wir haben ihn nicht beschuldigt. Wir wollten nur ein paar
Auskünfte von ihm haben … Einstweilen lass ich ihn im eigenen Saft schmoren.
Vergessen Sie nicht, einstweilen soll niemand erfahren, dass Hirsh ermordet
worden ist.»
«Wie lange wollen Sie das durchhalten?»
Der Polizeichef lachte zum ersten Mal seit Beginn des
Gesprächs. «Es ist kein Geheimnis mehr. Nachdem ich dem District Attorney
Bescheid gesagt hatte, musste es wohl oder übel die Runde machen; so was kann
man nicht verheimlichen. Ihr Freund Brown kann zwei und zwei zusammenzählen; er
weiß, dass wir ihm nicht zwei Beamte auf den Hals hetzen und sein Alibi
nachprüfen, wenn es nicht um Mord oder so was Ähnliches geht … Außerdem, in der
Abendausgabe des Examiner steht bereits in Fred Stahls Klatschspalte etwas
darüber. Andeutungen … Haben Sie’s nicht gelesen?»
«Ich lese keine Klatschspalten.»
«Schade; manchmal lohnt sich’s. Der Artikel fragt: ‹Was verheimlicht
die Polizei? Warum stellt die Staatsanwaltschaft Untersuchungen über den Tod
eines bekannten Wissenschaftlers an? Warum diese Geheimniskrämerei über seinen
Tod? Hat die Polizei einen Fehler gemacht, und versucht sie ihn jetzt zu
vertuschen?› So in der Tonart.»
«So wird das also gemacht?», murmelte der Rabbi traurig. «Andeutungen
in Klatschspalten, Gerüchte, Vermutungen … Und wenn nun Browns Sekretärin und
seine Angestellten den Artikel sehen? Und wenn daraus seine Kunden schließen,
dass er in einen Mordfall verwickelt ist? Gehört das auch zu den Dingen, die
jedem passieren können? Und alles nur, weil das Opfer eine Versicherung bei ihm
abgeschlossen hat?»
«Es war nicht nur diese Versicherung. Er hat auch der Witwe
die Grabstelle verkauft und hinterher versucht, die Leiche praktisch … eh,
auszuquartieren … Rabbi, in diesem verzwickten Fall, wo wir überhaupt keine
Anhaltspunkte haben, müssen wir der kleinsten Spur nachgehen.»
«Und verdächtigen Sie vielleicht auch Ben Goralsky, weil er
seinem früheren Partner Hirsh eine Stelle verschafft hat? Und weil er auch
nicht in der Synagoge war … Die Goralskys sollen sehr orthodox sein, da ist es
doch umso seltsamer, dass er nicht zum Gottesdienst ging,»
«Ich nehme an, Sie haben auch gehört, dass der Alte sehr schwer
krank war.»
«Ja. Aber nicht von Ihnen, Rabbi.» Die anfängliche Spannung
lag wieder in der Luft.
«Sie betonen, dass Sie vor allem anderen Polizist sind,
Lanigan. Nein, ich bin vor allem anderen Rabbiner. Mr. Goralsky ist in meiner
Gemeinde, und ich darf sein Vertrauen nicht missbrauchen, um die Polizei zu
informieren.»
«Mit anderen Worten, Sie würden die Polizei nicht
informieren, auch wenn Sie wüssten, dass jemand in Ihrer Gemeinde einen Mord
begangen hat?»
«Für mich gelten genau dieselben Pflichten wie für jeden anderen
Bürger», erklärte der Rabbi steif.
«Aber Sie unterstützen uns nicht.»
«Ich werde bestimmt keine unschuldigen Leute in Verdacht
bringen, damit sie von der Polizei belästigt werden …»
«Belästigt? Glauben Sie, wir vernehmen sie, weil’s uns Spaß
macht?»
«Im Endergebnis kommt es auf dasselbe hinaus. Brown war
aufgeregt und hatte Angst. Aber bestimmt nicht, weil er den Mord begangen hat;
er hat Angst um sein Geschäft; er denkt an seine Freunde, an seine Familie.»
«Aber er hat die Synagoge früher verlassen und will
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