Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
erfordert. Zur Begründung ihrer Behauptung, Eichmanns Verbrechen habe in seinem Nichtdenken bestanden, muss sie Nichtdenken und Genozid miteinander in Verbindung bringen, was bedeutet, dass Denken seinem Wesen nach die Bejahung pluraler Kohabitation sein muss.
Glücklicherweise unterläuft Arendt ihre Unterscheidung immer wieder. Wo sie denkt, theoretisiert sie das Denken; ihr Denken nimmt die Form des Urteilens an, und Urteilen ist eine Form des Handelns. Es ist das performative Handeln der Verurteilung Eichmanns am Ende ihres Textes. Wo sie ausdrücklich theoretisch über das Denken nachsinnt, bemerkt sie, dass es das Zusammenleben mit sich selbst impliziert, aber auch die wiederholte Konstitution dieses Selbst. Indem sie jedoch explizit zwischen Denken und Handeln unterscheidet, sagt sie auch, dass das Denken die interne Gesellschaft mit sich selbst beinhaltet, während das Handeln das Zusammenleben (und gemeinsame Handeln) mit anderen beinhaltet, mit jener verallgemeinerten Pluralität, die Eichmann zerstören wollte, eine Pluralität, die nun ihre Stimme in dem »Wir« erhebt, in dessen Namen Arendt Eichmann zum Tode verurteilt. Arendt trifft diese Unterscheidung ganz explizit, kann sie aber in ihrem Werk nicht konsistent durchhalten. Sie sucht sie folgendermaßen zu klären: »Der Hauptunterschied, politisch gesehen, zwischen Denken und Handeln, besteht darin, dass ich mich denkend nur in meiner eigenen Gesellschaft oder in Gesellschaft eines anderen befinde, während ich in Gesellschaft der vielen bin, sobald ich handle.« Und sie fährt fort: »Die Macht von Menschen, die nicht allmächtig sind, kann nur in einer der vielen Formen menschlicher Mannigfaltigkeit liegen, während jede Form menschlicher Singularität per definitionem machtlos ist.« (EJ, S. 226) Wenn wir diese Typologie ernst nehmen, denken wir für uns oder in dyadischen Bezügen, in tatsächlichen Dialogen zwischen diesem Selbst und einem anderen. Handeln im Sinne der Ausübung von Macht können wir aber nur, wenn wir mehrere sind, eine Pluralität jenseits dyadischer Bezüge. Ich frage mich, ob das stimmt, ja ob das überhaupt denkbar ist. Schließlich heißt es,das »Ich« konstituiert sich selbst durch die Sprache, und das ist bereits ein performativer Akt und damit ein Handeln. Arendt urteilt über Eichmann und das scheint zunächst durchaus ein dyadischer Bezug, wenn auch ein imaginärer und äußerst merkwürdiger. Beide Formen des Denkens haben sprachliche Form angenommen und in beiden Fällen beschreibt die Sprache nicht nur eine Realität, sondern erzeugt eine solche (die Selbstkonstitution ist illokutionär, das Urteilen perlokutionär). In diesem Sinn ist Sprache eine Art Handeln, ein konstituierendes oder performatives Handeln. Und hatte Arendt nicht gesagt, dass Pluralität im Denken angelegt ist? Heißt das nicht auch ganz unmittelbar, dass Handeln im Denken angelegt ist? Können wir überhaupt denken, ohne dass unser Denken schon in Bezug zum Handeln steht, ja ohne bereits auf die eine oder andere Weise zu handeln?
Arendt scheint zwar zwei unterschiedliche Modi der Pluralität zu unterscheiden, das Selbst und das Selbst zusammen mit anderen; aber sie lässt uns auch wissen, dass diese Unterscheidung nicht absolut gilt. Sie hatte bereits gesagt, dass das einsame Denken Spuren des sozialen Zusammenlebens aufweist. Man muss hier meines Erachtens aber noch deutlicher werden und sagen, dass es ohne diese belebenden Spuren des sozialen Zusammenlebens gar keinen Selbstbezug geben kann; das heißt, dass das Soziale dem Denken vorausliegt und Denken erst möglich macht. Zum Dialog mit sich selbst ist man erst imstande, wenn man sich schon im Dialog mit anderen befindet. Angesprochensein geht der Fähigkeit zur Adressierung vorher. Ethisch betrachtet wird man zur Antwort erst fähig, wenn man zuvor angesprochen wurde, wenn man zuvor von anderen konstituiert wurde; erst auf diesen Anruf kann man mit Selbstreflexion oder auch mit Denken reagieren. Nur als durch andere in die Sprache hineingebracht kann ich ihnen antworten und kann ich diese dialogische Begegnung als Teil meines eigenen Denkens verinnerlichen, und hier wird das Soziale zur belebenden Spur in allem unserem Denken. Der Dialog, der ich bin, lässt sich also letztlich nicht von der Pluralität trennen, die mich möglich macht. Dieser Dialog ist nicht vollständig auf die Pluralität rückführbar, aber es gibt hier notwendige Überschneidungen, einen Chiasmus zwischen
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